Systemische Aufstellungsarbeit kann für NextGens in Familienunternehmen eine wertvolle Methode der Selbsterkenntnis und Entwicklung sein. Das Erleben von Aufstellungen hilft dabei, verborgene Dynamiken innerhalb der Familie und des Unternehmens sichtbar zu machen und trägt zur persönlichen sowie beruflichen Weiterentwicklung bei. Im Gespräch mit Anne Kurth, Facilitator, Constellator und Lecturer sowie Gründerin von Motherland, und Natalie Jacobs, Host der Motherland Pioneers Experience in Deutschland sowie Louis Jacobs, NextGen und Teilnehmer bei Motherland Pioneers, erfährt unsere Partnerin Amelie Eichblatt mehr Hintergründe zur Einordnung, Bedeutung und Anwendung der systemischen Aufstellungsarbeit als wirkungsvolles Tool zur Selbsterkenntnis und persönlichen Weiterentwicklung von NextGens in Familienunternehmen.
Amelie: Liebe Anne, ich kenne und schätze Deine Arbeit sehr. Was genau umfasst die systemische Aufstellungsarbeit und was macht sie so wertvoll?
Anne: Es ist eine Methode, bei der verschiedene zentrale Aspekte eines Problems oder Anliegens räumlich zueinander in Beziehung gestellt werden. Diese Aspekte können Personen sein (Familienmitglieder, Kolleg:innen, Freund:innen etc.), innere Faktoren (Gefühle, Glaubenssätze, Seelenanteile) oder andere kausal zusammenhängende Elemente eines Systems (auf organisationaler Ebene z. B. Produkte, Handlungen und Personen).
Über die intuitive Anordnung dieser einzelnen Aspekte im Raum ergeben sich Erkenntnisse, z. B. durch Blickrichtungen, Aussagen, körperliche Reaktionen oder innere wie äußere Haltungen. Der renommierte Forscher und Aufsteller Heiko Kleve beschreibt es so: „Systemische Aufstellungen sind Räume, die sich zwischen den Repräsentanten aufspannen, damit sich unsere Themen als Geschichten in diesen entfalten und wandeln können.“ Diese Beschreibung gefällt mir besonders gut, weil sie aus meiner Sicht so treffend ist.
Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, können so betrachtet und häufig auch geheilt werden. Aber auch Entscheidungen, die für die Zukunft zu treffen sind, können im Hinblick auf die nächsten Schritte aufgestellt werden. Das Ziel einer Systemischen Aufstellung ist es dabei, dass der Aufstellende sein Anliegen für sich klärt und die Ordnung im betrachteten System wiederhergestellt wird. Es wird angestrebt, eine hohe Komplexität zu reduzieren, damit Struktur und Klarheit im System einkehren können.
Amelie: In Familienunternehmen treffen zwei Systeme aufeinander: Die Familie und das Unternehmen. Zwei Systeme, die unterschiedlicher gar nicht sein können: die Währung der Familie ist die Liebe, Sicherheit und Gleichbehandlung. Das System Unternehmen orientiert sich nach Wettbewerb, Leistung und folgt einer Über- und Unterordnung. Wie können systemische Aufstellungen Mitgliedern aus Unternehmerfamilien helfen, Dynamiken in den beiden Sphären besser zu verstehen?
Anne: Nahezu alle Themen können mit der Methode der systemischen Aufstellungen erkundet, betrachtet und häufig auch gelöst bzw. wichtige Entwicklungsimpulse gesetzt werden. Das Prinzip gilt immer der Komplexitätsreduktion – wir befinden uns in einem Konflikt, einer Krise, einem Dilemma und suchen häufig nach einem Anfang und einem Ende. Aufstellungsarbeit hat immer die Klärung und Reduktion der Komplexität zum Ziel. Hier kann bereits die Anliegenklärung, die im Vorfeld der Systemischen Aufstellung stattfindet, auf einen bestimmten Aufmerksamkeitsfokus hinlenken. Schon dieses Gespräch kann ein wichtiger Erkenntnisraum für einzelne oder innerhalb einer Familie, eines Unternehmens sein. Im zweiten Schritt werden wichtige Personen, Rollen, Aspekte besprochen, auch hier findet eine weitere Verständigung statt. Die Platzierung dieser als vom Klienten relevant empfundenen Systemelemente im Raum liefert dann Einblicke, die wir rational so nicht so einfach herstellen können. Aufstellungsarbeit verbindet Kopf, Hand und Herz und führt zu mehr Handlungsfähigkeit und Verantwortung – beides zentrale Themen in Familienunternehmen. Zudem beschreiben neue Managementtheorien den Wandel von effizienten über postmoderne zu integral-evolutionären Organisationen, bei denen neue Werte zählen. In einem solchen Unternehmen könnte Aufstellungsarbeit ein gängiges Führungstool werden.
Amelie: In meiner Arbeit mit Unternehmerfamilien zu inhaberstrategischen Fragestellungen, oftmals auch im Zuge eines Generationswechsels, sehe und erkenne ich die folgenden exemplarischen Themen und Anlässe, welche bspw. mit Hilfe von systemischer Aufstellungsarbeit bearbeitet werden können:
- Verborgene Dynamiken: Es gibt oft unausgesprochene Regeln, Aufträge, Erwartungen und Konflikte, die über Generationen hinweg bestehen.
- Erbe und Vermächtnis: Das Spannungsfeld zwischen Belastung und Gestaltungsraum eines Familienunternehmens wirkt sich gravierend auf Nachfolger:innen aus.
- Rollen und Erwartungen: NextGens stehen oft unter Druck, die Erwartungen der älteren Generation zu erfüllen und gleichzeitig eigene Wege zu finden. Sie suchen nach Klarheit hinsichtlich ihrer eigenen Rolle.
- Konfliktlösung: Familienunternehmen sind häufig von interpersonellen Konflikten geprägt. Aufstellungen bieten eine Möglichkeit, diese Konflikte auf einer tieferen Ebene zu bearbeiten und nachhaltige Lösungen zu finden.
- Übergangsphasen: Der Generationswechsel ist eine kritische Phase für Familienunternehmen. Systemische Aufstellungen können dabei helfen, diesen Übergang zu gestalten und sicherzustellen, dass sowohl die alte als auch die neue Generation gut vorbereitet sind.
Auf dieser Grundlage: Was glaubst Du, liebe Anne, welche Relevanz hat die systemische Aufstellungsarbeit insbesondere für die NextGens aus Familienunternehmen?
Anne: Etliche Studien zeigen seit Jahren, dass die NextGens andere Anforderungen an das eigene Leben, die Gesellschaft und an Organisationen haben. Es geht um Themen wie Sinn, Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Gemeinschaft und sozial verantwortliches Handeln. Das sind alles Themen, die ein höheres Bewusstsein und die Fähigkeit zu systemischem Denken fordern – achtsames Handeln, multiperspektivische Mindsets, partizipative Kompetenz und vor allem auch Mitgefühl. Diese sogenannten weichen und kreativen Skills werden als Future Skills beschrieben. Die SDGs (Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen) werden ergänzt um die Inner Development Goals, bei denen es um die Stärkung von Beziehungsfähigkeit, Selbsterfahrung, kognitiven Kompetenzen, Collaborations- und Handlungsfähigkeit geht. Systemische Aufstellungsarbeit kann neben der Klärung eigener dysfunktionaler Muster auch eine sehr wichtiges Trainingsfeld sein, um diese Kompetenzen zu schulen. Insofern hat die Aufstellungsmethode zwei Ebenen, die der Anliegenklärung und darüber hinaus auch die des Future Skill Trainings. Die Neurowissenschaftlerin Tania Singer forscht seit Jahren an einem Compassiontraining für Unternehmen. Aufstellungsarbeit kann als ein solches betrachtet werden.
Amelie: Um die nächste Generation dabei zu unterstützen, ihre Zukunft selbstbestimmt zu gestalten, hast Du eine Initiative ins Leben gerufen. Das Motherland Pioneers Programm hilft ihnen, über Selbsterfahrung zu mehr Sinn und innerer Führung zu erlangen. Wie kam es dazu?
Anne: Es entstand durch einen Impuls von Studierenden, die ich als Lehrende an der Bergischen Universität Wuppertal mit Themen wie Soziale Kompetenz, New Leadership und (sozialer) Innovationsentwicklung begleite. Die Studierenden wussten von meinen Leadershipformaten in Namibia und äußerten den Wunsch, etwas ähnliches für ihre Altersgruppe zu erfahren. So fand 2020 die erste Motherland Pioneers Experience in Frankreich mit einer Gruppe Studierender statt. Ein Thema, das seitdem fast alle Teilnehmenden einbringen, ist der soziale und familiäre Druck, ein Thema also, das NextGens aus Familienunternehmen kennen.
Amelie: Liebe Natalie, als Mitglied einer Unternehmerfamilie und Host des Programms bist Du ein wichtiger Partner der Motherland Pioneers Experiences – wie kam es dazu und was ist Deine Motivation?
Natalie: Ich bin mit dem Thema Systemische Aufstellungen in Berührung gekommen, als ich 2020 an einem wunderbaren Motherland-Seminar von Anne Kurth in Namibia teilgenommen habe. Für mich war dieses qualitativ erstklassige Seminar ein absoluter „Life Changer“! In einem geschützten Raum die Methode der Aufstellungen zu erleben und deren kraftvolle Wirkung zu spüren, war eine transformative Erfahrung. Dieses wunderbare Erlebnis, Teil einer wertschätzenden Gruppe zu sein und die Möglichkeit zu haben, unbewusste Dynamiken innerhalb der Familie und des Unternehmens bildhaft darzustellen, möchte ich sehr gerne auch der Jugend, der zukünftigen Generation, ermöglichen.
Amelie: Lieber Louis, Du gehörst zu der NextGen und hast selbst an dem Programm schon teilgenommen. Was hast Du für Dich mitgenommen?
Louis: Die Teilnahme am Motherland Pioneers Seminar war für mich eine unglaublich wichtige Erfahrung. Sie hat mir geholfen, mich selbst besser zu verstehen, und dadurch mehr Selbstsicherheit zu gewinnen. Besonders beeindruckend fand ich, wie ich durch den offenen und ehrlichen Austausch mit den anderen Teilnehmern und die für mich neue Methode der systemischen Aufstellungen, tiefere Einblicke in meine persönlichen und unsere familiären Dynamiken bekommen konnte.
Das nächste Motherland Pioneers Experience findet in diesem Jahr im Juli und im September auf dem Fährhof in Niedersachsen statt, mehr Informationen und die Möglichkeit zur Anmeldung gibt es hier.
Die Gesprächspartner:innen
Anne Kurth, Facilitator, Constellator und Lecturer sowie Gründerin von Motherland
Natalie Jacobs, Host der Motherland Pioneers Experience in Deutschland, Mitglied der Unternehmerfamilie Jacobs
Louis Jacobs, NextGen in der Unternehmerfamilie Jacobs und Teilnehmer bei Motherland Pioneers