
In den letzten Jahren durfte ich über 40 Familien bei der Erarbeitung einer Inhaberstrategie, oftmals verschriftlicht in einer Familienverfassung, begleiten. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich viele Familien zunächst unsicher sind, was eine Familienverfassung eigentlich ist und welchen Zweck sie erfüllt. Immer noch herrscht eine große Begriffsverwirrung: Inhaberstrategie, Familienverfassung, Nachfolgeplan, Familienkodex oder Charta, Leitlinien – was passt zu uns und was brauchen wir eigentlich?
Ein besonders eindrückliches Beispiel war eine Unternehmerfamilie, die mich zu einem ersten Gespräch einlud. Der Vater, ein erfahrener Unternehmer, erwartete eine Art juristisch bindenden Vertrag, der die Nachfolge regelt. Die Mutter hingegen dachte an ein emotionales Dokument mit gemeinsamen Werten und Leitlinien für die Familie. Die erwachsenen Kinder wiederum befürchteten, dass ihnen feste Regeln für ihr Leben und ihr unternehmerisches Wirken vorgegeben würden. Erst als wir gemeinsam die verschiedenen Aspekte einer Inhaberstrategie besprachen, wurde klar, dass es sich nicht um ein starres Regelwerk handelt, sondern um eine individuell gestaltbare Orientierungshilfe für die Familie: im Ergebnis eine Familienverfassung.
Diese Verwirrung begegnet mir immer wieder – der Begriff „Verfassung“ lässt viele zunächst an Gesetze und Vorschriften denken, dabei geht es vielmehr um den bewussten Umgang mit Werten, Kommunikation und Zusammenhalt innerhalb der Familie sowie in mindestens gleicher Intensivität um den gemeinsamen Blick auf das Unternehmen, dessen Zukunftsfähigkeit und die Art und Weise, wie die Familie Einfluss auf das Unternehmen ausüben kann und sollte. Schauen wir mal genauer rein.
Was ist also eine Familienverfassung – und was nicht?
Eine Familienverfassung ist ein strategisches Instrument, das die Zusammenarbeit der Gesellschafterfamilie regelt. Sie dokumentiert verbindlich, moralisch statt rechtlich, die Werte, Regeln und Verhaltensweisen, die das Handeln der Familie im Unternehmen leiten sollen. Typische Inhalte sind:
- Nachfolgeregelungen: Wie wird der Generationswechsel gestaltet? Welche Qualifikationen müssen Nachfolger mitbringen?
- Gemeinsame Werte und Visionen: Welche Werte prägen die Familie, und wie sollen diese das Unternehmen leiten?
- Konfliktprävention: Wie werden Streitigkeiten beigelegt, bevor sie eskalieren?
- Governance-Strukturen: Wie werden Gremien wie Beiräte oder Aufsichtsräte organisiert, um Transparenz und Effizienz zu gewährleisten?
- Zuständigkeiten und Rollen: Wer entscheidet was, und welche Verantwortung tragen Gesellschafter, Führungskräfte und externe Manager?
Wichtig: Eine Familienverfassung an sich ist zwar nicht rechtlich bindend. Wir erleben aber in der Praxis häufig, dass auf Basis der hier getroffenen Regelungen, wichtige juristische Dokumente wie Gesellschaftsverträge, Satzungen und Testamente an die neue Zeit angepasst werden oder auch Governance-Strukturen verändert und Gremien neu gebildet werden. Darüber hinaus bietet sie – vor allem in immer stärker zersplitterten Gesellschafterkreisen - eine moralische Grundlage, die die Familie langfristig verbindet und Konflikte minimiert.
Vorurteile und wie sie entkräftet werden können
„Eine Familienverfassung löst keine Konflikte.“
Das stimmt, denn die Verfassung allein kann keine bestehenden Streitigkeiten beseitigen. Allerdings sind Verfassungen ja immer das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung im Familien-/Gesellschafterkreis. Durch offene Diskussionen und moderierte Gespräche können oftmals vormalige Tabuthemen besprochen, Spannungen abgebaut und langfristige Lösungen gefunden werden. Wir sehen in (fast) allen unseren Prozessen, dass das Verständnis füreinander wächst, was oftmals und die Grundlage für eine konfliktfreie Zukunft ist.
„Familienverfassungen sind nur ein Modetrend.“
Weit gefehlt: Familienverfassungen sind in vielen erfolgreichen Unternehmen längst etabliert. Es gibt mehrere Studien, die die positiven Effekte von Familienverfassungen in Familienunternehmen untersuchen. Eine Studie der INTES-Akademie für Familienunternehmen, durchgeführt in Zusammenarbeit mit PwC und der WHU – Otto Beisheim School of Management, ergab, dass 58 % der Unternehmen mit einer Familienverfassung eine Umsatzrendite von über fünf Prozent erzielen, während dies nur 46 % der Unternehmen ohne ein solches Regelwerk erreichen. Weitere Studien zeigen, dass Unternehmen mit einer Familienverfassung häufig profitabler sind, da sie klarere Strukturen und eine stärkere strategische Ausrichtung besitzen. Sie sind kein kurzlebiger Trend, sondern ein bewährtes Instrument moderner Familienunternehmensführung.
„Eine Familienverfassung ist nicht rechtlich bindend.“
Das stimmt, sie ersetzt keine juristischen Verträge. Sie ergänzt diese jedoch durch moralische Verbindlichkeit und bietet die Grundlage, um juristische Dokumente wie Gesellschaftsverträge, Eheverträge oder Testamente zu harmonisieren. Dies sorgt für eine klare und langfristige Regelung zentraler Fragen. In unseren Mandaten begegnen uns häufig Gesellschaftsverträge, die über 20 Jahre alt sind und im Zuge der Erarbeitung einer Inhaberstrategie auf den Prüfstand gestellt werden und anschließen mit zeitgemäßen Regelungen angepasst werden.
„Familienverfassungen führen zu Überregulierung.“
Das Gegenteil ist der Fall. Eine gut strukturierte Familienverfassung sorgt für Klarheit und Effizienz, indem sie Zuständigkeiten und Entscheidungsprozesse klar definiert. Gerade in Unternehmen mit komplexen Strukturen hilft sie, Abläufe zu vereinfachen – etwa durch die Einführung einer Familienholding. Ein erfolgreiches Familienunternehmen, dessen Inhaberfamilie ich begleiten durfte, stand vor wachsenden Herausforderungen: Die Geschäftsführung lag beim Firmengründer, während die nächste Generation teils operativ tätig war, teils nur, als Gesellschafter involviert war. Uneinheitliche Entscheidungswege führten zu Verzögerungen und Spannungen. Durch die Einführung einer Familienverfassung mit einer Familienholding wurden Zuständigkeiten klar geregelt: Die Geschäftsführung übernahm das operative Geschäft, während strategische Entscheidungen auf Gesellschafterebene getroffen wurden. Zudem wurde die Nachfolge strukturiert geplant. Das Ergebnis: effizientere Abläufe, weniger Konflikte und eine stabile Basis für langfristiges Wachstum.
„Am Ende ist sie nur ein ungenutztes Schriftstück.“
Der eigentliche Wert einer Familienverfassung liegt nicht nur im Dokument selbst, sondern im Prozess ihrer Entstehung. Während der gemeinsamen Diskussion entwickeln Familien ein tieferes Verständnis füreinander und schaffen ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl. Governance-Maßnahmen wie Beiräte oder Aufsichtsräte fördern das Engagement der Familienmitglieder und machen die Verfassung zu einem lebendigen Werkzeug.
Die Vorteile einer Familienverfassung auf einen Blick
Familienverfassungen bieten eine Vielzahl von Vorteilen, die den Erfolg eines Familienunternehmens nachhaltig sichern können:
- Stärkerer Zusammenhalt: Gemeinsame Werte und Ziele fördern die familiäre Bindung und stärken das Verantwortungsgefühl gegenüber dem Unternehmen.
- Höhere Professionalität: Strukturen und klare Entscheidungsprozesse erleichtern die Zusammenarbeit und erhöhen die Attraktivität für externe Führungskräfte.
- Nachweislicher wirtschaftlicher Erfolg: Studien belegen, dass Unternehmen mit Familienverfassung effizienter geführt werden und höhere Renditen erzielen.
- Flexibilität und Krisenfestigkeit: Regelmäßige Überarbeitung der Verfassung macht das Unternehmen anpassungsfähiger und stabiler in schwierigen Zeiten.
- Motivation der nächsten Generation: Mitgestaltungsmöglichkeiten und klare Strukturen fördern das Engagement der jungen Generation.
Voraussetzungen für eine erfolgreiche Familienverfassung
Damit die Familienverfassung ihre volle Wirkung entfalten kann, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein:
- Freiwilligkeit: Alle Beteiligten müssen sich freiwillig am Prozess beteiligen und den Ergebnissen zustimmen.
- Externe Moderation: Eine neutrale Begleitung durch Experten oder Mediatoren hilft, Interessenskonflikte zu vermeiden und Konsens zu schaffen.
- Regelmäßige Überprüfung: Die Verfassung muss regelmäßig überprüft und an neue Gegebenheiten angepasst werden, um relevant zu bleiben.
- Kohärenz mit rechtlichen Dokumenten: Die Verfassung muss mit bestehenden Gesellschaftsverträgen und Satzungen harmonieren, um widersprüchliche Regelungen zu vermeiden.
- Langfristiges Engagement: Die Verfassung sollte als Teil eines kontinuierlichen Dialogs innerhalb der Familie gesehen werden.
Fazit: Der Schlüssel zu Stabilität und Erfolg
Eine Familienverfassung ist mehr als nur ein Regelwerk – sie ist ein strategisches Instrument, das die Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit der Familie und des Unternehmens schafft. Durch klare Strukturen, gemeinsame Werte und den Prozess der offenen Kommunikation bietet sie Schutz vor Konflikten, stärkt die Identität der Familie und fördert die langfristige Stabilität und den wirtschaftlichen Erfolg.
Familienunternehmen, die auf eine Familienverfassung setzen, übernehmen Verantwortung für ihre Familie und ihr Unternehmen – und steigern ihre Chancen auf eine erfolgreiche Übergabe an die nächste Generation.
Entscheiden auch Sie sich für Klarheit, Zusammenhalt und eine nachhaltige Zukunft. Haben Sie schon eine Familienverfassung? Kontaktieren Sie mich gerne: a.eichblatt@petermay-fbc.com
Auf einen Blick:
Die fünf zentralen Ziele einer Familienverfassung
- Regelung der Unternehmensnachfolge: Die Übergabe an die nächste Generation ist oft eine der größten Herausforderungen für Familienunternehmen. Eine Familienverfassung definiert klare Prozesse, Anforderungen und Verantwortlichkeiten, um einen reibungslosen Generationswechsel zu ermöglichen.
- Gemeinsame Werte und Verantwortung: Eine Familienverfassung fördert die Identität der Familie und ihre Verantwortung gegenüber dem Unternehmen. Sie definiert, was die Familie als wichtig erachtet und wie diese Werte das Unternehmen prägen sollen.
- Stärkung der Governance: Professionelle Strukturen wie Beiräte oder Aufsichtsräte schaffen klare Kommunikations- und Entscheidungswege. Sie fördern eine effiziente Unternehmensführung und geben der Familie einen Rahmen, in dem sie strategisch agieren kann.
- Konfliktprävention: Durch klare Regelungen zu potenziellen Konfliktthemen – etwa Gewinnverwendung, Arbeitsverhältnisse im Unternehmen oder Anteilsübertragungen – wird Streit vorgebeugt. Offene Diskussionen im Rahmen der Verfassung fördern gegenseitiges Verständnis und schaffen Vertrauen.
- Rollenklärung: Durch die klare Abgrenzung von Rollen – beispielsweise zwischen operativer Geschäftsführung, Gesellschaftern und externen Führungskräften – werden Konflikte vermieden. Zuständigkeiten und Entscheidungsprozesse werden transparent geregelt.