
30 Jahre nachdem Prof. Dr. Peter May das Konzept der Inhaberstrategie in Deutschland eingeführt hat, gehören die daraus entstandenen Familienverfassungen zum Standardrepertoire vieler Familienunternehmen.
Die Notwendigkeit liegt auf der Hand. Spätestens ab der zweiten oder der dritten Generation entscheidet nicht mehr ein Gründungsunternehmer oder Geschäftsführender Gesellschafter allein über die strategische Marschrichtung, über den Kurs des Unternehmens. Bei zunehmender Größe der Firma und wachsenden Gesellschafterkreisen sind an der Strategieentwicklung viele Stakeholder beteiligt, folglich muss sie stärker formalisiert werden. Der Abstimmungsbedarf wird höher, vor allem beim Einsatz einer Fremdgeschäftsführung.
Bei Management und Gesellschaftern entsteht der Bedarf nach Vorgaben oder Leitplanken, nach einer weiterführenden Abstimmung über die Ziele des Unternehmens. Entsprechend sehen wir heute Familienverfassungen in der Regel spätestens ab der zweiten und dritten Generation mit dem erklärten Ziel, auch als größer werdenden Inhaberfamilie die Geschicke des Familienunternehmens im Sinne der Familie gestalten zu können. Die Erarbeitung einer solchen Verfassung beinhaltet nicht selten ein (hoch-)emotionales Ringen um den besten Weg für das Unternehmen. Denn es treffen im erweiterten Inhaberkreis tätige und nicht-tätige Gesellschaftern aus unterschiedlichen Generationen mit unterschiedlichen Ausbildungen, Prägungen und Lebensplänen aufeinander.
Dennoch ist es richtig und wichtig, diesen Prozess zu durchlaufen, die notwendigen Leitplanken zu entwickeln und dies in einer Familienverfassung zu verschriftlichen. Aber damit allein ist es nicht getan. Im Nachgang bedarf es nicht selten einer Anpassung beziehungsweise Neukonzeption des Gesellschaftervertrages. Ein Vertrag, den die meisten Familien möglichst unangetastet in der Schublade lassen wollen. Wir sehen häufig Gesellschaftsverträge, die seit 30 Jahren konstant geblieben sind, auch wenn ansonsten in Familie und Unternehmen kein Stein auf dem anderen geblieben ist.
Eine gute Inhaberstrategie kommt aber ohne eine kontinuierliche Anpassung an die externen Veränderungen (Markt, Technologie, politische Rahmenbedingungen) und and die internen Veränderungen (wachsende oder schrumpfende Gesellschafterkreise, Wechsel von inhabergeführt zu inhaberkontrolliert) nicht aus.
Im Betriebswirtschaftsstudium lernen wir, das Unternehmensorganisation und Struktur der Strategie zu folgen hat. Dies ist sicherlich grundsätzlich richtig. Dennoch haben in Familienunternehmen einzelne Gesellschafter häufig einen wesentlichen Einfluss auf die Strategie. Die im Familienunternehmen limitierten Ressourcen haben darüber hinaus einen weiteren Einfluss auf die Organisation und die Strategie. Es besteht somit eine wechselseitige Abhängigkeit, der es auch im Inhaberstrategieprozess Rechnung zu tragen gilt.
Bei Familien, die einmal eine Familienverfassung erstellt haben, erleben wir häufig einige Jahre später eine gewisse Frustration. Die Verfassung sei wirkungslos geblieben, eine bloße Absichtserklärung ohne den erhofften Change-Effekt?
Warum passiert das? Nun, die beste Strategie taugt bekanntlich nichts, wenn sie nicht verstanden und umgesetzt wird. Für die Nicht-Umsetzung gibt es verschiedene Gründe. Manche nicht-operativ tätigen Gesellschafter fühlen sich vom existierenden Zahlenwerk entweder überfordert oder bekommen schlichtweg nicht die Zahlen und Informationen, aus denen sich der Stand der Strategieumsetzung ablesen ließe. In anderen Fällen fühlen sich neu hinzukommende Gesellschafter nicht an eine Familienverfassung gebunden, an der sie nicht mitgewirkt haben und die aus ihrer Sicht zudem von der Realität längst überholt wurde. Dem Hinweis, dass die Verfassung nicht mehr in die Zeit passt, muss nicht selten Recht gegeben werden.
Außerdem beobachten wir in vielen Familienunternehmen, das operativ tätige Gesellschafter und nicht-operativ-tätige Gesellschafter zu einer sehr unterschiedlichen Beurteilung der Informationslage kommen. Man könnte es auch so formulieren: Man spricht zwar über das gleiche Problem, die Perspektive sind jedoch so unterschiedlich, dass ein Konsens nur schwer zu erziehen ist.
Deshalb empfehlen wir eine strukturierte, abgestimmte Vorgehensweise, um bei essentiellen inhaberstrategischen Fragen wirklich ins Doing zu kommen. Es braucht jetzt Transparenz, ein gemeinsames Kennzahlenverständnis, das Setzen einer konkreten Timeline und ein Controlling der Etappenziele. Einmal etabliert, hilft ein solches System u.a. auch dabei, alle Gesellschafter auf den gleichen Informationsstand hinsichtlich aller relevanter Parameter zu bringen, so dass Strategiediskussionen professioneller und faktenbasierter geführt werden können. Denn schon alleine die Frage, welche Themen von welchen Personenkonstellationen in welchen Rhythmen besprochen werden sollten, ist in vielen Familien ungeklärt und führt immer wieder zu Spannungen.
Auch das Erwartungsmanagement oder die Formulierung dessen, was man als Erfolg bezeichnen würde, ist in Familienunternehmen eine knifflige Aufgabe. Beides ist aber wichtig, hilft bei einer späteren Evaluierung und reduziert Frustrationen sowohl im Gesellschafterkreis als auch beim Management.
Deshalb lautet unsere klare Empfehlung nach der Erstellung einer Familienverfassung: Überprüfen Sie, ob Sie mit dem Grad der Umsetzung Ihrer Inhaberstrategie zufrieden sind. Hinterfragen Sie die Aspekte, bei denen Sie sich heute nicht mehr wohl fühlen, kritisch. Oder lassen Sie sich von einem erfahrenen Moderator bei der Umsetzung begleiten.
Dr. Matthias Händle ist Partner und Geschäftsführender Gesellschafter der PETER MAY Family Business Consulting GmbH & Co. KG und Mitglied verschiedener Beiräte in Familienunternehmen. Er begleitet viele Inhaberfamilien bei der zeitgemäßen Anpassung und Umsetzung ihrer Familienverfassungen.