Viessmann & Co: Droht Deutschlands Familienunternehmen der Ausverkauf?

Der Verkauf des Wärmepumpengeschäfts von Viessmann an den US-Konzern Carrier ist für Prof. Dr. Peter May Ausdruck einer tiefergehenden Veränderung und er fragt sich, ob der Familienkapitalismus noch zukunftsfähig ist.

Peter May

 

Es war die Wirtschaftsnachricht des Frühjahrs: Viessmann, Deutschlands wohl bekanntester Heizungsbauer wird an den US-Konkurrenten Carrier verkauft. 4 Mrd. Euro Umsatz und 11.000 Mitarbeiter wechseln für sagenhafte 12 Milliarden Euro den Besitzer. Ein Aushängeschild des „German Mittelstand“ ist nicht länger ein deutsches Familienunternehmen. Entsprechend groß und vielstimmig war das Echo. Von „Genialer Coup der Familie Viessmann“ über „Kapitulation einer Unternehmerfamilie“, bis hin zu „trauriges Resultat verfehlter Wirtschafts- und Klimapolitik“, reichten die Bewertungen. Fast jeder durfte sich im Recht fühlen und nach Herzenslust auf den politischen Gegner einprügeln.

 

Gründungsmythos in Gefahr

Mich selbst hat der Viessmann-Verkauf erschüttert. Nein, ich will mich hier nicht zu Viessmann äußern. Meine persönliche Nähe zur Inhaberfamilie verbietet eine öffentliche Bewertung. Was mich umtreibt, geht weit über die Causa Viessmann hinaus. Denn der Verkauf des hessischen Heizungsbauers ist längst kein Einzelfall mehr. Vor Viessmann wechselten schon Birkenstock, Hella, Rimowa und Wirtgen die Besitzer – allesamt für extreme Kaufpreise – an ausländische Konkurrenten und Equity Fonds. Im German Mittelstand brodelt es. Fast wöchentlich erreichen mich Anrufe verunsicherter Familienunternehmer: „Sollen wir verkaufen? Müssen wir es vielleicht sogar? Lohnt es sich noch, in Deutschland Unternehmer zu sein?“

Das ist nicht einfach eine neue Mode. Ein Gründungsmythos der Republik steht zur Disposition. Wenn Deutschlands Familienunternehmen verschwinden, ist nicht nur eine verlässliche Säule unseres Wohlstandes, unserer Steuereinnahmen und unserer Arbeitsplätze in Gefahr, sondern auch der soziale Kitt, der über Jahrzehnte kapitalistisches und sozialistisches Gedankengut miteinander versöhnt und einen kraftvollen „Dritten Weg“ zwischen den Ideologien gewiesen hat. Deutschlands „Soziale Marktwirtschaft“, auch „Rheinischer Kapitalismus“ oder „Familienkapitalismus“ genannt, ist kein Shareholder-Kapitalismus angelsächsischer Prägung. Er stellt nicht einseitig die Interessen der Kapitalgeber in den Vordergrund, sondern bemüht sich um einen fairen Ausgleich zwischen den Interessensgruppen. Das ihm zugrunde liegende Narrativ einer Wirtschaftsordnung, die ökonomischen Erfolg, soziale Verantwortung und gesellschaftliche Verankerung miteinander versöhnen und verbinden kann, ist das Produkt der Wiederaufbaugeschichte unseres Landes, Grundlage seines ökonomischen Erfolgs und seiner weltweiten Reputation. Die Welt beneidet uns um den „German Mittelstand“. Wenn er verschwindet, verlieren wir wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftliche Stabilität gleichermaßen. Grund genug, den Dingen auf den Grund zu gehen.

 

Die Pfeiler des Erfolgs

Deutschlands wirtschaftlicher Wiederaufstieg nach dem Desaster des „1000jährigen Reichs“ beruht auf wenigen, einander verstärkenden Erfolgspfeilern. Nach dem großen Krieg brauchen Deutschland und die Welt industrielle Produkte. Die Deutschen waren gute Ingenieure, ehrgeizige Unternehmer und wollten wieder nach vorne. Das Wissen, es alleine und gegeneinander nicht schaffen zu können, begünstigte eine Sozialpartnerschaft, die vor allem in den personengeprägten mittelständischen Unternehmen aufs Beste gedieh „Alle für einen und einer für alle“ und „Wohlstand schaffen für Mitarbeiter und Eigentümer“ waren mehr als nur Lippenbekenntnisse. Wiederaufstieg als gemeinsames Projekt sozusagen.

Begünstigt wurde das Ganze von einer gesellschaftlichen Verfasstheit, die von Patriarchat, Autorität und Tradition geprägt war. In den Firmen gehorchte man dem „Chef“ und in der Familie dem „Patriarchen“. Der „Chef-Patriarch“ hatte nicht nur das Sagen, er trug auch die Verantwortung für das Wohlergehen seiner „Untergebenen“. Die anderen gehorchten, selbst wenn es gegen die eigenen Interessen ging. „Firma geht vor“ und „Geht’s der Firma gut, geht’s uns allen gut“, waren markanter Ausdruck der herrschenden Ideologie.

Zugleich schufen die Deutschen ein eigenes Finanzierungskonzept für den Wiederaufbau ihrer Wirtschaft. Während die Angelsachsen den Logiken der Kapitalmarktfinanzierung vertrauten, setzten die Deutschen auf Kreditfinanzierung durch Banken - Großbanken für die Großunternehmen und Regionalbanken für den Mittelstand. Von
(Finanz-)Unternehmer zu (Industrie-)Unternehmer und von Patriarch zu Patriarch sozusagen. Wer sich an die Bankengespräche jener Zeit erinnern kann, weiß, was ich meine.

 

Tempus fugit

Diese Zeiten sind vorbei. Wirtschaft und Gesellschaft im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gehorchen anderen Gesetzen, auch in Deutschland. Und es stellt sich die Frage, was das für unsere Unternehmen bedeutet. Insbesondere für unsere Familienunternehmen und die Familien, denen diese Unternehmen gehören. Wer sein Unternehmen „enkelfähig“ machen will – und das ist nun einmal der Ur-Zweck aller Bemühungen in einem Familienunternehmen - muss sich an die Veränderungen anpassen. Survival of the fittest, dagegen lässt sich nicht argumentieren. Grund genug, die drei großen Veränderungsstränge, die dem German Mittelstand und seinem Gründungsmythos zusetzen, näher zu betrachten.

 
Deutschland verliert an Wettbewerbsfähigkeit

Deutschlands Familienunternehmer sind in Sorge um den Zustand des Landes und seiner Wirtschaft. Kein Wunder: In Länderrankings, die Standortattraktivität messen, ist der einstige Musterschüler nurmehr auf den hinteren Plätzen zu finden. Und wer sehenden Auges durch das Land fährt, der kann den Abstieg mit Händen greifen – auf Bahnhöfen, Flughäfen und Autobahnen, in Schulen, Krankenhäusern und in der öffentlichen Verwaltung, in der Provinz, in den Städten und in den Herzen der Menschen. Das Deutschland des Jahres 2023 ist ein müdes und verunsichertes Land. Und es wird mehr als eine präsidiale Ruckrede und ein paar Schrödersche Arbeitsmarktreformen brauchen, um die Abwärtsspirale zu stoppen und Aufbruchstimmung zu erzeugen. Zu vielfältig und komplex sind die Probleme der Gegenwart.

 

Transformation der Industriegesellschaft

Deutschland ist ein Industrieland. Es verdankt seinen Wohlstand hervorragenden Leistungen in Schlüsselindustrien wie Automobilität und Maschinenbau und der Kraft seines industriellen Mittelstandes. In dem Maße, in dem industrielle Geschäftsmodelle von digitalen herausgefordert und verdrängt werden, werden auch seine Unternehmen herausgefordert und verdrängt. Und da die digitalen Herausforderer leider nur selten aus Deutschland kommen, ist aus dem mikroökonomischen längst ein makroökonomisches Problem geworden. Bei den industriellen Schlüsselinnovationen, Automobil und Maschinenbau, Chemie und Pharmazie waren deutsche Unternehmen noch vorne dabei, bei den Schlüsselinnovationen des Digitalzeitalters sind sie es nicht.

 

Herausforderer China

Mit China hat der einstige Exportweltmeister zudem einen ernstzunehmenden Rivalen bei industriellen Produkten erhalten. Dabei ist das chinesische Vorgehen so einfach wie effektiv. Im ersten Schritt werden deutsche Unternehmen mit Blick auf den riesigen Absatzmarkt ins Land geholt, im zweiten werden ihre Produkte kopiert, im dritten wird billiger hergestellt und im vierten qualitativ besser und innovativer. Wer wissen will, was chinesische Hersteller zu leisten imstande sind, muss sich nur die wachsenden Erfolge chinesischer Automobilhersteller anschauen – nicht nur in China selbst.

 

Verfehlte Energiepolitik

Dazu kommen signifikante Schwächungen der industriellen Kernkompetenz des Landes. Industrielle Produktion ist auf verfügbare und preiswerte Energie angewiesen. Aufgrund einer verfehlten Energiepolitik ist Deutschland vom Billigenergieland zum Problemstandort in Sachen Energie geworden. Selbstgewählte Abhängigkeit von billigem Russengas, die Abschaltung von Atommeilern wider alle ökonomische und ökologische Rationalität, ideologische und handwerkliche Fehler bei der notwendigen Wende zu einer nachhaltigen Energieversorgung – die Liste der Fehlleistungen ist lang und hat nicht erst mit dem Grünen-Minister im Wirtschaftsministerium begonnen. Das Ergebnis ist ernüchternd: Das Deutschland des Jahres 2023 ist in Sachen Energie abhängig und teuer.

 

Marode Infrastruktur

Zukunftsfähige Standorte brauchen eine funktionierende Infrastruktur. Jahrzehntelang haben unsere Nachbarn uns um eine Infrastruktur beneidet, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit amerikanischer Unterstützung in beachtlicher Geschwindigkeit über das zerstörte Land gezogen wurde. Straßen und Autobahnen, Bahnhöfe und Zugverbindungen, Flughäfen und Flugzeuge, Stromnetze und Telefonleitungen, Schulen und Universitäten, Krankenhäuser und Forschungseinrichtungen: alles neu und funktionstüchtig. Und heute? Baustellen und marode Brücken behindern den Personen- und Güterverkehr, der Bahnverkehr leidet unter Zugausfällen und Dauerverspätungen, auf den Flughäfen bummelt das Bodenpersonal und stauen sich die Urlaubsflieger, Schulen sind verwahrlost und leiden unter Lehrermangel, unsere Universitäten ringen verzweifelt um internationalen Anschluss, Stromnetze sind überlastet, Krankenhäuser von der Insolvenz bedroht und die digitale Infrastruktur auf Drittweltniveau. Seit Jahrzehnten haben wir nicht nur die Bundeswehr, sondern auch unsere Infrastruktur vernachlässigt. Jetzt stehen wir vor einem riesigen Investitionsstau. Doch woher soll das Geld kommen? Und wer kann und will ihn überhaupt beseitigen? Viele offene Fragen, nur eines steht fest: Mit dieser Infrastruktur werden wir die Zukunft nicht gewinnen.

 

Unternehmerische Inkompetenz

Die deutsche Schlüsselindustrie, die Automobilwirtschaft, hat sich auch durch eigene Fehler in die Defensive manövriert. Wer seine Ingenieurskunst dazu nutzt, in betrügerischer Absicht Messergebnisse beim CO2-Ausstoß zu manipulieren, anstatt konsequent innovative umweltverträgliche Technologien zu entwickeln, verdient kein Mitleid. Betrug und Arroganz gehören bestraft. Schlimm nur, dass von den Auswirkungen dieser ökonomischen und moralischen Katastrophe nicht so sehr die sie verursachenden Manager, sondern vor allem der Standort und die mittelständische Zulieferindustrie betroffen sind.

 

Überbordende Bürokratie

Aber vielleicht ist der Verlust der Innovationskraft gar kein Zufall. Fortschritt braucht Innovation und Innovation braucht Freiheit, Geschwindigkeit und ein innovationsfreundliches Umfeld. Deutschland erstickt an einer überbordenden, alle Lebensbereiche durchdringenden Bürokratie. Hier wird nicht gefördert, hier wird verhindert. Ein Land, dass der Risikovermeidung konsequent den Vorrang vor dem Fortschritt einräumt, ist kein guter Standort für innovative Unternehmer. Dass BioNTech, der deutsch-türkische Vorzeigeinnovator in der Coronakrise, seine Krebsforschung jetzt wegen zu großer bürokratischer Hürden nach Großbritannien verlegt, muss ein Weckruf für alle sein.

 

Risiko De-Globalisierung

Warum es Deutschland trotz all der aufgezeigten Unzulänglichkeiten in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten vergleichsweise gut ging, ist leicht erklärt. Durch die Reformen der Regierung Schröder in seiner Wettbewerbsfähigkeit revitalisiert, wurde das Land zum großen Gewinner der Globalisierung. Als der Sowjetkommunismus implodierte und die vormals kommunistisch regierten Staaten in die Freiheit entließ, wurde der Kapitalismus westlicher Prägung zu einem globalen Phänomen. Sogar das riesige China öffnete seine Tore vorsichtig für westliche Produkte und Dienstleistungen und wurde zum aktiven Mitspieler der Weltwirtschaft.

Deutschlands Unternehmen erkannten früh die Chancen der Globalisierung. Sie beteiligten sich aktiv an der Erschließung der neuen Märkte, deren Hunger nach Luxusgütern und Ausrüstungsgegenständen der Weltwirtschaft einen ähnlichen Schub versetzte wie der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Umsätze, Gewinne und Eigenkapital wuchsen gewaltig, trotz Verlagerung von Produktionen in Billiglohnländer entstanden neue und hochwertige Arbeitsplätze, aus „Hidden Champions“ wurden „Big Champions“ und die Bezeichnung „German Mittelstand“ wurde zum Ehrentitel wie zuvor schon das „Made in Germany“. Überspitzt formuliert kann man sagen: Die Globalisierungserfolge der deutschen Unternehmen waren groß genug, die gleichzeitigen Fehlleistungen der deutschen Politik zu kompensieren.

Deshalb muss uns die Veränderung der politischen Großwetterlage und die aggressive Rivalität der beiden Großmächte USA & China verstören. Beide Länder sind unverzichtbare Wirtschaftspartner. Ein Decoupling von einem der beiden wäre für Deutschland ökonomisch nicht zu kompensieren. Schon eine Zunahme des Blockdenkens hätte erhebliche Konsequenzen. Denn der große Gewinner der Globalisierung wäre automatisch auch der große Verlierer einer De-Globalisierung.

 

Das Fehlen einer überzeugenden Industriepolitik

Ich kann an dieser Stelle nicht umhin, das Fehlen einer überzeugenden Industriepolitik zu rügen. Während die Chinesen an der Seidenstraße bauen und die Amerikaner unter dem falschen Etikett eines „Inflation Reduction Act“ ihre inländische Industrie subventionieren und ausländisches Kapital ins Land ziehen, gibt es in Deutschland nicht einmal ansatzweise überzeugende Gedanken dazu, wie man die Nachteile, die man der Industrie beim ökologischen Umbau zumutet, so kompensiert, dass am Ende nicht nur die Umwelt, sondern auch die Unternehmen, Arbeitnehmer und die Volkswirtschaft besser dastehen. Wer den ökologischen Umbau der Wirtschaft forcieren will, muss Anreize schaffen, die den Umstieg attraktiv machen. Mit Verboten setzt man nur Anreize zum Verkauf oder zur Übersiedlung in die USA, aber nicht dafür, dass Unternehmer in diesem Lande weitermachen. Als ökologischer Vorreiter hat Deutschland wirtschaftliche Chancen, Unternehmen hervorzubringen, die Vorreiter in zukunftsweisenden ökologischen Technologien sein können. Aber diese Unternehmen brauchen die Unterstützung und den Schutz durch eine staatliche Wirtschaftspolitik, die damit zugleich die Grundlagen für den Wohlstand der Zukunft legen will – am besten in europäischem Maßstab. Eine politische Haltung der Art, „ Es kann uns doch egal sein, woher die Solarpaneele oder Wärmepumpen kommen,“ mag der Umwelt vielleicht egal sein, den deutschen Unternehmen und der deutschen Bevölkerung ist sie es nicht. Das traurige Schicksal der deutschen Solarenergie darf sich nicht wiederholen.

 

Sozialstaat am Limit

Deutschland ist eine soziale Marktwirtschaft. Das Sozialstaatsprinzip gehört zu den vier elementaren Staatszielbestimmungen. Und das ist gut so. Ich lebe lieber in einem Gemeinwesen, dessen Zielorientierung ein „Genug für Alle“ und nicht ein „(Fast) Alles für wenige“ ist. Und ich bin sicher, dass die meisten Deutschen ebenso denken. Und doch ist die Sache komplizierter. Die Antinomie zwischen Kapital und Sozial lässt sich nicht in einem Entweder-oder denken. Verteilt werden kann nur, was zuvor erwirtschaftet wurde. Und erwirtschaftet wird nur, wenn sich das Erwirtschaften auch lohnt. Soziale Marktwirtschaft ist immer auch die hohe (Staats-)Kunst des Interessenausgleichs, ein Balanceakt im Sinne eines Sowohl-als auch.

Und genau diese Kunst des klugen Ausgleichs haben Deutschlands Regierungspolitiker in den letzten Jahren vermissen lassen. Geblendet von den Unternehmer-Erfolgen in der Globalisierung und dem Segen niedriger Schuldzinsen haben sie eine zukunftssichernde Wirtschafts- und Finanzpolitik vernachlässigt und immer weiter soziale Wohltaten verteilt – wohl wissend, dass dies bei der Masse der Wähler besser ankommt und Wiederwahlen sichert. Schäubles „Schwarze Null“ hat vielleicht das Schlimmste verhindert und dafür gesorgt, dass wir besser als die Mehrzahl unserer europäischen Nachbarn für Krisen gerüstet waren. Kluge und vorausschauende Wirtschaftspolitik war aber auch sie nicht.

Nun wird es langsam eng. Mit dem massenhaften Übertritt der Baby Boomer in die Rentenkassen rächt es sich, dass Deutschland seine Altersversorgung ausschließlich über Beitragszahlungen finanziert. Aufrufe zur Umstellung und ausländische Vorbilder gab es genug. Die deutsche Politik aber folgte lieber dem Motto „Augen zu und durch“ und wiederholte geradezu stoisch das Versprechen des früheren Arbeitsministers Norbert Blüm: „Die Rente ist sicher.“


Verfehlte Zuwanderungspolitik

Aber wie sicher können beitragsfinanzierte Sozialsysteme sein, wenn die Zahl der Beitragszahler sinkt und die Zuwanderung in die Sozialsysteme ansteigt? Es sind ja nicht nur die Baby Boomer, die uns Sorgen machen. Längst rächt sich auch eine verfehlte Zuwanderungspolitik.

Deutschland ist kein attraktives Einwanderungsland für Leistungsträger und Hochqualifizierte. Eine ausländerfeindliche Grundhaltung der Bevölkerung, Sprachprobleme und bürokratische Hemmnisse werden immer wieder als Gründe genannt, wenn Zugewanderte weiterziehen oder gleich attraktivere Ziele ansteuern. Diejenigen, die bleiben, landen überdurchschnittlich oft in den Sozialsystemen. Weil Deutschland bis heute kein überzeugendes Einwanderungsgesetz hat, gerät es gegenüber Ländern wie den USA, Kanada, Australien, Neuseeland und auch gegenüber unseren nordeuropäischen Nachbarn zunehmend ins Hintertreffen. Zuwanderer nach Deutschland kommen überdurchschnittlich oft aus den unteren sozialen Schichten. Und weil für ihre Integration ein überzeugendes Konzept fehlt, macht die Zuwanderung Deutschland im Moment nicht besser, sondern schlechter. Ablesen lässt sich dies nicht nur in unseren Sozialsystemen, sondern auch in Bildungs- und Kriminalitätsstatistiken und in Überfremdungs- und Abstiegsängsten der Bevölkerung. Dass hierüber nicht einmal ein ehrlicher Diskurs geführt werden kann, macht die Sache in mehrfacher Hinsicht gefährlich. Hier tickt eine gesellschaftliche Zeitbombe.

 

Misslungene Krisenintervention

Spätestens seit 2008 sind Krisen zu einer Art Normalzustand in den westlichen Demokratien geworden. Und mit ihr staatliche Rettungsschirme. Finanzkrise, Eurokrise, Covid-Krise und Energiekrise, was immer auch an Zumutungen auf den Bürger zukam, das staatliche Versprechen blieb gleich: „Whatever it takes“, „Wir lassen niemanden zurück“ oder „Doppel-Wumms“. Man verschuldete sich, druckte Geld und verteilte es an alle und jeden. Betrug, Korruption und schreiende Ungerechtigkeiten als Kollateralschäden inbegriffen. Woher das Geld kommt, wie es zurückgezahlt werden soll und welche Auswirkungen diese Art der Krisenintervention auf das Wirtschafts- und Finanzsystem und die Moral der Menschen haben muss, darüber konnte oder wollte niemand öffentlich nachdenken.

 

Ein dysfunktionaler Arbeitsmarkt

Eine traurige Folge: Arbeit in Deutschland ist unattraktiver geworden. Während die Arbeitgeber händeringend nach Arbeitskräften suchen, bleiben immer mehr Menschen lieber zuhause. Schuld am aktuellen Arbeitskräftemangel sind aber nicht nur die großzügigen Leistungen aus den staatlichen Unterstützungskassen, die zumindest die schlecht bezahlten Arbeiten im Niedriglohnsektor wenig lohnend erscheinen lassen.

Auch das früher mit der Arbeit verbundene Versprechen, sich bei ausreichender Anstrengung sozialen Aufstieg und den Traum von den eigenen vier Wänden ermöglichen zu können, rückt durch die Öffnung der Einkommens- und Vermögensschere für die arbeitende Mittelschicht immer mehr in unerreichbare Ferne. Eine Gesellschaft, in der die einen Champagner aus Magnumflaschen trinken und mit dem Privatflieger zu einer ihrer Luxuswohnungen fliegen und die anderen sich nicht einmal mehr eine Wohnung in der Stadt leisten können, hat ein Problem.

Damit nicht genug. Die Jungen haben ohnehin eine andere Haltung zur Arbeit entwickelt. „Work-Life-Balance“, elterliche Arbeitsteilung in der Erziehung und „Weniger ist mehr“ kennzeichnen eine innere Abkehr von der strengen Leistungsattitüde der Elterngeneration. Das Hamsterrad und die Akkumulation von Statussymbolen haben ihre Anziehungskraft verloren. Für das persönliche Glück und für die Umwelt mögen das gute Nachrichten sein, für die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme sind sie es nicht.

 

Problemfall Steuerpolitik

Zu den Standortnachteilen Deutschlands gehört nicht zuletzt ein desolates Steuersystem. Steuern sind ein unverzichtbarer Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens und der von ihm zu erbringenden Leistungen. Sie zu zahlen, ist die wichtigste Verpflichtung, welche die Mitglieder dem Gemeinwesen gegenüber haben. Aber auch das Gemeinwesen trifft eine Verpflichtung. Es muss mit den Steuern seiner Mitglieder nicht nur sinnvoll umgehen, sondern auch ein System der Besteuerung schaffen, das einfach und fair ist und von den Bürgern akzeptiert werden kann. Im Klartext heißt das: faire Regeln, gesicherte Einhaltung und absolute Transparenz. Von diesem Ideal sind wir in Deutschland weit entfernt, vor allem bei der für die Unternehmer wichtigen Ertrag- und Erbschaftsteuer. Statt „Bierdeckelsteuer“ und „Flat Tax“ haben wir eines der kompliziertesten Steuersysteme der Welt geschaffen – mit schlimmen Folgen. Wer arm ist, zahlt sowieso keine Steuern, wer reich ist, kann mithilfe legaler Steuervermehrungsstrategien seine Schulden deutlich reduzieren, und der Mittelstand bezahlt die Zeche. Das Ergebnis ist fatal. Die Steuermoral sinkt, das Steueraufkommen bleibt hinter den Möglichkeiten zurück und die Unternehmer beschäftigen sich mehr mit Steuer- als mit Marktinnovationen. Vielleicht sollte die Politik endlich einmal den Mut aufbringen, den Lobbyisten der Verbände und der Steuerberatungsindustrie die Stirn zu bieten und eine große Steuervereinfachungsreform nicht nur ankündigen, sondern auch umsetzen. Gute Vorschläge gibt’s genug.

 

Schwindendes Vertrauen in Politik und Demokratie

Während die Probleme größer werden, schwindet das Vertrauen der Menschen in die Problemlösungsfähigkeit der Politik. Haben sie uns nicht erst dahin gebracht? Sind ihre Fehleinschätzungen und ihr persönlicher Ehrgeiz nicht (mit)verantwortlich für das Desaster, das uns Angst macht? Das Image der Politiker ist nicht gut. Vielen gelten sie als inkompetent, selbstsüchtig und korrupt, willfährige Diener der Interessen der Mächtigen. „Die bestehende Regierung? Zerstrittene Amateure! Die Alternative? Auch nicht besser!“ So oder so ähnlich klingt es an den Stammtischen, in den Chatrooms und bei Unternehmertreffen.

Das ist der Moment, in dem wir uns Sorgen um die Zukunft unserer Demokratie machen sollten. Demokratie lebt weniger von freier Meinungsäußerung als von der Erwartung, dass es den Menschen unter einer von ihnen selbst bestimmten Herrschaft besser gehe als unter einem Autokraten, der zuerst an das eigene Wohlergehen denkt und das seines Clans. Das musste schon der junge Journalist Karl Marx erfahren, als er sich wegen eines zensorischen Angriffs in die Pressefreiheit hilfesuchend an einen mächtigen Gewerkschaftsführer wandte. Es gehe nicht um „Preßfreiheit“, beschied ihn dieser, sondern um „Freßfreiheit“. Die Menschen erwarten von ihrer Führung, dass es ihnen gut geht. Wenn diese Erwartung enttäuscht wird, wollen sie eine andere Führung. Das ist in der Demokratie nicht anders als in einer Autokratie, nur eben leichter durchsetzbar. Deshalb ist die derzeitige Unsicherheit und Unzufriedenheit in der Bevölkerung für die westlichen Demokratien so gefährlich. Gefährdet sind nahezu alle, bis hinauf zur westlichen Führungsmacht. Das Phänomen Trump und der von ihm angezettelte Sturm auf das Kapitol war kein Ausrutscher. Es war ein Fanal.

Noch erscheint Deutschlands Demokratie stabiler als die vieler Verbündeter. Die Anhänger populistischer und autokratischer Kandidaten und Gruppierungen sind zwar auch hier auf dem Vormarsch, aber noch gibt es weniger Infizierte als in Frankreich, Italien oder den USA. Aber lassen Sie uns selbstkritisch sein: Hat das wirklich damit zu tun, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg die besseren Demokraten geworden sind, oder nur damit, dass unser Sozialstaat bislang weniger Verlierer, Abgehängte und Notleidende erzeugt? Aber wie lange kann er das noch?

Die Verschlechterung der Rahmenbedingungen für Unternehmertätigkeit ist kein Gefühl, sie ist real. Und sie macht es aus Unternehmersicht zwingend, darüber nachzudenken, wie sich das gesteigerte Risiko für Familienvermögen diversifizieren lässt. Unternehmensverkauf eingeschlossen.

 

Spitzenpreise für Unternehmen

Zur allgemeinen Verunsicherung kommt ein positiv verstärkender Anreiz für den Verkauf. Die Preise für Unternehmen sind seit der Finanzkrise 2008/2009 deutlich gestiegen. Ursächlich hierfür ist weniger eine Explosion der Unternehmensgewinne, als vielmehr ein externer Faktor. Zahlten Unternehmenskäufer früher etwa das 15fache des Gewinns, ist es heute nicht selten das 40fache des EBITDA.

Die Verantwortung für diese Fehlentwicklung liegt bei der Politik. Als 2008/2009 die Finanzmärkte zu kollabieren drohten, entschlossen sich Regierungen und Notenbanken, das System mit billigem Geld zu fluten. Sie machten Schulden und schufen neues Geld in bis dahin unvorstellbaren Ausmaß. Und weil dem neuen Kapital kein vergleichbar gewachsenes Angebot gegenüberstand, verteuerten sich die Preise für Immobilien und Luxusgüter und eben auch für Unternehmen. Dass das neue Geld aufgrund der Nullzinspolitik der Notenbanken praktisch nichts kostete, wirkte als zusätzlicher Preisbeschleuniger. Wer für das beim Kauf aufgenommene Fremdkapital (fast) nichts zahlen muss, kann sich mit niedrigeren Rentabilitätskennziffern begnügen und höhere Multiplikatoren auf den Ertrag bezahlen – je höher der Fremdkapitaleinsatz (neudeutsch Leverage), desto höher der mögliche Preis. Und da die neuen Player auf dem Markt für Unternehmenskäufe, die sogenannten Equity Fonds, traditionell mit hohem Leverage agieren, schossen die Preise für Unternehmen in ungekannte Höhen.

Deutschlands Familienunternehmen wurden zum bevorzugten Ziel der Unternehmenskäufer: Gute Produkte, eine solide Marktposition mit Ausbaumöglichkeiten und eine stabile Finanzierung sind ein Idealfall für jeden Unternehmensjäger. Strategische Käufer und Finanzinvestoren überboten sich gegenseitig. Was die einen an Synergievorteilen in die Waagschale werfen konnten, machten die anderen durch Leverageeffekte wett (zumindest solange das Geld billig war). Die neuen, oft schwindelerregenden Preise brachten das traditionelle Weltbild der Familienunternehmer („Meine Firma verkaufe ich nicht“) ins Wanken.

Lassen Sie mich das mit einem simplen (naturgemäß vereinfachten) Rechenbeispiel illustrieren. Nehmen wir ein x-beliebiges Familienunternehmen mit einem Gewinn von 10 und einem EBITDA von 15 und vergleichen die unternehmerische Entscheidungssituation in den Jahren 1990 und 2020. 1990 konnte ein verkaufswilliger Unternehmer ungefähr mit dem 15fachen des Gewinns rechnen. Auf den so errechneten Kaufpreis bezahlte er den halben Spitzensteuersatz (grob gerechnet 25 Prozent), so dass ihm nach Steuern etwas mehr als 110 verblieben. Wenn er diese 110 nach dem Verkauf im Kapitalmarkt (damals bevorzugt in Aktien, Anleihen und Immobilien) anlegte, konnte er voneiner Anlagerendite von etwa 5 Prozent ausgehen. 5 Prozent auf 110 sind nach Adam Riese 5,5, also deutlich weniger als die im Unternehmen erwirtschafteten 10. Kein Wunder, dass sich ein Verkauf für viele Unternehmer als unattraktive Alternative zur unternehmerischen Tätigkeit darstellte.

Heute sieht die Rechnung des Unternehmers anders aus. Der Kaufpreis ist auf das bis zu 40fache des EBITDA hochgeschnellt. Um nicht zu übertreiben, nehmen wir einen Faktor von 30 auf das EBITDA von 15, ziehen fiktive Schulden von 50 ab und kommen zu einem Kaufpreis von 400. Darauf zahlt der Unternehmer, der dank Schröderscher Steuerreform eine Kapitalgesellschaft als Holding zwischen sich und Firma geschaltet hat, heute nur noch 1,5 Prozent Steuern, also 6. Ihm verbleiben statt vorher 110 nun also mehr als 380. Und es kommt noch besser. Als Anlagemöglichkeiten stehen ihm heute auch sogenannte Alternative Assets zur Verfügung, vornehmlich Direktbeteiligungen, Venture und Equity Fonds, mit denen sich nach dem Vorbild der amerikanischen Endowments ohne weiteres Renditen von 10 oder 15 Prozent erzielen lassen. Gehen wir konservativ von einer Kapitalrendite von 10 Prozent aus, verzinst sich seine Investmenttätigkeit nun praktisch mit knapp 40 (statt eines Unternehmensgewinns von 10), und das bei deutlich reduziertem Risiko. Kann man es einem Familienunternehmer angesichts dieser Entscheidungslage verdenken, wenn er die aufreibende und zunehmend risikobehaftete Unternehmertätigkeit gegen die lukrativere und einfachere Rolle eines Family Investors eintauscht?

Die Kombination aus staatlicher Geldflutungspolitik und der Innovationskraft der angelsächsischen Finanzkapitalisten ist eine geradezu toxische Mischung für die Zukunft des  German Mittelstand. Und es gehört wenig Fantasie dazu zu prognostizieren, dass diese Entwicklung noch lange nicht an ihr Ende gekommen ist.

 

Unternehmerisches Selbstverständnis im Wandel

Aber es sind nicht nur drastisch verschlechterte Rahmenbedingungen und explodierende Kaufpreise, die den Gründungsmythos bedrohen. Gefahr droht auch aus den Familienunternehmen selbst. Das Selbstverständnis der sie tragenden Familien befindet sich im Wandel.

Das Selbstverständnis der Wiederaufbau-Patriarchen beruhte auf einem doppelten Dreiklang. Zu Autorität, Loyalität und Verantwortung gesellten sich ökonomischer Erfolgshunger, soziale Verantwortung sowie regionale und gesellschaftliche Verankerung. Wenn wir früher von uns begleitete Unternehmer nach ihrem Selbstverständnis fragten, lautete die Antwort beinahe stereotyp: “Wohlstand schaffen für Mitarbeiter und Inhaberfamilie.“ Geld verdienen war wichtig, aber nicht das alleinige Ziel der unternehmerischen Bemühungen. Ich erinnere mich noch gut, als ich meinen Vater, einen Vollblut-Familienunternehmer alter Schule nach der notwendig gewordenen Schließung einer Betriebsabteilung einmal fragte, warum er die dort beschäftigten Mitarbeiter nicht entlasse. Seine Antwort kam spontan: “Junge“, sagt er, „ich bin für die Menschen verantwortlich. Wir haben doch genug.“ Es war dieses Selbstverständnis, dass Deutschlands Familienunternehmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders machte. Und es war diese besondere Art von Kapitalismus, um den uns die Welt beneidete.

Fragen wir uns nun selbstkritisch und ehrlich: Gibt es ihn noch? Hat er sich nicht überholt oder ist von der Geschichte überholt worden? Viele Anzeichen sprechen dafür. Deutschlands Familienkapitalismus gedieh in den Zeiten des Kalten Krieges. In der Auseinandersetzung zwischen angelsächsischem Liberalkapitalismus und Sowjetkommunismus wies der sozialgebundene Kapitalismus einen attraktiven „Dritten Weg“ zwischen den ideologischen Fronten. Gilt das in einer Welt, in der die Trennlinien nicht mehr zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern zwischen liberalem Individualkapitalismus und autoritärem Staatskapitalismus verlaufen, noch ohne weiteres? Es sind zumindest Zweifel angebracht.

Andere Veränderungen sind eindeutiger. Autorität und Tradition sind von den 68ern in die Asservatenkammer der Geschichte verbannt worden und haben ihre gesellschaftliche Bindekraft verloren. Loyalität ist selten geworden – auf beiden Seiten. Mitarbeiter bleiben nicht mehr ein Leben lang in einer Firma, von über Generationen weitergegebenen Beschäftigungsverhältnissen ganz zu schweigen. Der Gedanke einer großen „Unternehmensfamilie“, für die der Patriarch verantwortlich ist, erscheint heute anachronistisch.

Auch Unternehmerkinder folgen inzwischen nicht mehr ohne weiteres den Vorgaben der Eltern. Konrad Henkels berühmter Anspruch „Firma geht vor“ fällt immer häufiger individueller Selbstverwirklichung zum Opfer. Dazu passt eine umwälzende Veränderung des Governanceverständnisses in Familienunternehmen. Das Governanceverständnis der jungen Generation ist weniger personalistisch als das der Väter. Mehr Struktur, mehr Professionalität und weniger persönliche Strahlkraft. In der Folge übernehmen die Unternehmerkinder der Jetztzeit deutlich seltener operative Aufgaben in der Führungshierarchie des Unternehmens. Aus dem „Geschäftsführenden Gesellschafter“ des 20. Jahrhunderts (neudeutsch „CEO“) ist der „Chairman of the Board“ geworden. Immer mehr Familienfirmen werden von familienfremden Managern geführt. Mit Auswirkungen auf die Kultur des Unternehmens und die Bindung der Familie an ihr Unternehmen. Man mag das bedauern, leugnen kann man es nicht.

Mehr noch: Der unaufhaltsame Siegeszug angelsächsisch geprägten Gedankenguts hat auch unsere Familienunternehmen erreicht. Wir haben unsere Kinder auf die besten Business Schools in England und in den USA geschickt. Was haben sie dort wohl gelernt? Rheinischen Familienkapitalismus wohl kaum. Englisch ist die Sprache der Wirtschaft, englisch (oder besser amerikanisch) ist auch ihr Denken. Unsere Hochschulen und unsere Unternehmen haben deren Denkweisen kritiklos übernommen und dabei nicht einmal bemerkt, welche wirtschaftskulturelle Revolution sie damit ausgelöst haben. Wir bilden keine Diplomkaufleute mehr aus, sondern MBAs. Wir bilanzieren nicht mehr nach einem HGB, das dem Prinzip des vorsichtigen Kaufmanns folgt und die Bildung stiller Reserven zur Königsdisziplin erhebt, sondern nach dem kapitalmarktorientierten IFRS, das Jahr für Jahr den wahren Wert der Unternehmung ermitteln will. Wir messen keine Jahresüberschüsse und Gewinne mehr, sondern EBIT und EBITDA, die beide aus der Denkwelt der Finanzinvestoren stammen. Und wir schauen nicht mehr auf Eigenkapitalquote und Goldene Bilanzregel, sondern auf Leverage, Dynamischen Verschuldungsgrad und Covenants. Und dann wundern wir uns, dass unsere Familienunternehmer immer mehr wie angelsächsische Finanzinvestoren denken und handeln?

 

Anstelle eines Fazits

Nun ist es am Ende wohl eine Philippika geworden. Man möge es mir verzeihen. Ich habe mich einfach mein Leben lang für Familienunternehmen eingesetzt, weil ich in ihnen (trotz all ihrer Fehler) die beste Form menschlichen Wirtschaftens gesehen habe. Und jetzt? Kann ich einer Familie Viessmann raten, anders zu entscheiden, als sie entschieden hat? Sind der Weg zu einem diversifizierten Portfolio und die Wandlung von Familien-Unternehmer zum Familien-Investor nicht der bessere Weg, die Enkelfähigkeit des Familienvermögens zu sichern? Würde ich selbst anders entscheiden und muss ich nicht all „meinen“ Familien raten, ähnliche Erwägungen zumindest ernsthaft anzustellen?

Und gleichzeitig – aus einer anderen Perspektive betrachtet: Kann ich eine solche Entwicklung wollen – für unsere Wirtschaft, für unsere Gesellschaft, für unser Land? Was ist, wenn es unsere Familienunternehmen alter Prägung morgen nicht mehr gibt? Was geschieht mit unserem wirtschaftlichen Fundament, unserem sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt, wenn der „Kitt“ fehlt? Ist es wirklich egal, woher die Wärmepumpe oder die Solarpaneele kommt?

Ich bin ratlos.

 

Prof. Dr. Peter May ist Gründungspartner von PETER MAY The Family Business People, Honorarprofessor an der WHU – Otto Beisheim School of Management und Vorsitzender der Kommission Governance Kodex für Familienunternehmen.