Political Risk Assessment: Wie Familienunternehmen geopolitischen Risiken begegnen können

Mit Rüdiger von Fritsch, ehemaliger deutscher Botschafter in Moskau, und Jan Kallmorgen, Gründer der geopolitischen Strategieberatung Berlin Global Advisors, spricht Jörg Huber, Geschäftsführender Gesellschafter der PETER MAY Family Office Service, über Risikomanagement für Inhaber, Geschäftsführer und Aufsichtsräte in Familienunternehmen.

Interview Political-Risk-Management

 

Jörg Hueber: Lieber Herr von Fritsch, bevor wir uns mit der Thematik (und Notwendigkeit) der politischen Risikobewertung (hier hat sich die anglizistische Begrifflichkeit des Political Risk Assessments etabliert) in Familienunternehmen befassen, ziehe ich kurz vor die Klammer: Unternehmerische Freiheit hat in den vergangenen Jahren von diversen Seiten eine Flankierung, manchmal Begrenzung erhalten, denken wir an Lieferkettengesetz, ESG, Cyber Security, Datenschutz, Diversity-Vorgaben etc. Dabei werden teilweise gesamtgesellschaftliche Aufgaben in die Unternehmen verlagert (die auch Teil des gesamtgesellschaftlichen Gefüges sind). Darüber kann man denken, wie man mag, aber das Aufgabenspektrum und Anforderungsprofil für Gesellschafter, Management und Aufsicht (Aufsichtsrat, Beirat) und damit die Heraus- und Anforderungen an ihre Qualifizierung sind stark gewachsen; die Bürokratie gleich mit. Zusätzlich haben sich (geo-)politische Grundlinien verschoben, aus „Problem“-Regionen sind Krisenregionen geworden, aus Krisenregionen sogar Kriegsregionen – in einer globalisierten, eigentlich transparenten Welt. All diesen Themenstellungen haben sich Unternehmer, Geschäftsführer und Aufsichtsräte zu stellen, weil sie die Geschäftsmodelle ihrer Unternehmen berühren.  

Rüdiger von Fritsch: Kein Unternehmen, das international engagiert ist, kann es sich heute leisten, ohne einen ständigen Blick auf die geopolitischen Risiken zu arbeiten. Dabei geht es nicht nur um die Regionen, in denen ich tätig bin, sondern um die Frage: Welche Auswirkungen haben die großen Entwicklungen unserer Zeit auf meine Zielländer? Welche Konsequenzen haben die weltweiten Bemühungen um Dekarbonisierung? Was bedeutet es, dass jenseits des russischen Angriffskrieges die Globalisierung strukturell zwar im Wesentlichen erhalten bleibt, sich ihre Natur jedoch verändern wird? Muss ich Abhängigkeiten reduzieren, wo bieten sich zuverlässige Chancen künftigen Engagements, welche Verantwortungen ergeben sich für mich als Unternehmer oder Geschäftsführer, welche Fragen werden dem Aufsichtsrat gestellt werden? Welche Folgen könnte es haben, wenn der aussichtsreiche Oppositionskandidat in einem lateinamerikanischen Land für eine engere Verflechtung seines Landes mit China eintritt? Welche Folgen würde ein Machtwechsel in den USA für die Situation im indopazifischen Raum haben?

 
Wie der Krieg Wirtschaft und Innenpolitik Russlands destabilisiert

Jörg Hueber: Sie sprechen die Relevanz der Ereigniswahrscheinlichkeitsgewichtung an, dem Fundament der Einschätzung von Chancen und Risiken. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat uns mehrheitlich überrascht. Viele Familienunternehmen erleben die plötzliche Erfahrung des Abbruchs, des Verlustes von über Jahren und Jahrzehnten aufgebauten Beziehungen, Partnerschaften und damit Verlässlichkeit und auch sozialen Bindungen durch die Belegschaft vor Ort. Gleichfalls erfahren sie (in der Mehrzahl) ökonomische Verluste, sei es im Absatz von Waren und Dienstleistungen, Lieferbeziehungen, Standorten, Finanzierung etc.

Die Auseinandersetzung mit der Situation in der Ukraine und in Russland ist gleichfalls Teil der „neuen Normalität“ geworden, der Schock der ersten Zeit ist einer zunehmend sachlicheren Befassung gewichen. Lassen Sie uns eine kurze Bestandsaufnahme wagen.

Rüdiger von Fritsch: Praktisch alle Analysten – auch in Russland! – haben sich in einem getäuscht: der Bereitschaft und Fähigkeit Wladimir Putins, seinem Land und seinen Interessen im Ergebnis einer geradezu grotesken Fehleinschätzung der Wirklichkeit derart dramatisch zu schaden. Selbst Präsident Selenskij warnte noch fünf Tage vor Kriegsbeginn auf der Münchner Sicherheitskonferenz davor, in Panik zu verfallen, dies schade dem Wirtschaftsstandort Ukraine und seiner Währung.

Was ist das Ergebnis des Debakels, in das Wladimir Putin sich gebracht hat? Zu seinen ursprünglichen Kriegszielen – die er weiterhin verfolgt – ist ein weiteres hinzugekommen. Er hatte klargestellt, dass es ihm nicht nur darum ging, die Ukraine zu unterjochen, sondern auch, den Westen zu schwächen, in dem er diesen zwingen wollte, seine Verteidigungsfähigkeit zu reduzieren. Der Führer eines Landes, dessen Einfluss im globalen Machtspiel tendenziell immer weiter abnahm, wollte sich stärken, indem er andere mit Gewalt zwingen wollte, sich selbst zu schwächen. Nun ist ein weiteres Ziel hinzugekommen: Wladimir Putin kämpft in der Ukraine um seine Macht zu Hause. Deswegen ist er so entschlossen, diesen Krieg derart rücksichtslos und grausam weiterzuführen. Friede ist für ihn überhaupt kein Ziel an sich.

Wie könnte dieser Krieg enden? Eine Seite gewinnt – derzeit nicht leicht vorstellbar. Eine Seite gibt auf – Wladimir Putin wird dies nicht tun, aber wir sehen hier, dass er eine doppelte Wette auf die Zeit eingeht: Er setzt darauf, dass unsere Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen, nachlässt, vor allem in dem Fall, dass ein Republikaner die nächsten Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnt. Das Ergebnis wäre nicht nur ein Ende der ukrainischen Selbstständigkeit und Freiheit, sondern auch eine Bedrohung unserer Sicherheit, denn Russlands Präsident würde sich bestätigt sehen und ermutigt fühlen, dass die Drohung mit und die Anwendung von Gewalt sich auszahlt.

Zugleich weiß er, dass er den Krieg selbst nicht beliebig lange wird durchhalten können. Denn die Sanktionen treffen ihn an seinem empfindlichsten Punkt: seinen Einnahmen. Diese benötigt er nicht nur, um seinen Krieg zu führen, sondern vor allem dafür, sich ständig Zustimmung zu Hause zu erkaufen. „Die gegen die russische Wirtschaft verhängten Sanktionen könnten sich mittelfristig wirklich negativ auf sie auswirken“, räumte er selbst im März 2023 ein. Seine wichtigsten Einnahmen stammen aus dem Verkauf von Öl und Gas. Die russische Gasproduktion ging 2022 um 20 % zurück, zugleich sanken die Preise für fossile Energieträger auf ein Niveau unter dem vor Kriegsbeginn. Kunden wie China und Indien, die mehr Öl abnahmen, konnten Rabatte durchsetzen – und der Export von Gas in neue Zielländer ist ohne zusätzliche, aufwändige Infrastruktur nicht möglich.

Im Januar 2023 waren die Einnahmen des russischen Staatshaushalts im Vergleich zum Vorjahresmonat bereits um 35 % zurückgegangen, die Ausgaben hingegen um fast 60 % gestiegen. Das Haushaltsdefizit für die Monate Januar und Februar 2023 betrug bereits fast 90 % des für das Gesamtjahr eingeplanten Defizits. Für Wladimir Putin wird es immer schwieriger, seine zweite Wette auf die Zeit zu gewinnen: die Stabilität des Landes und seines Regimes zu erhalten. Die immer härtere Repression in Russland zeigt, dass der Präsident weiß, dass die vermeintliche Unterstützung für sein Regime im Kern eigentlich nur eine mangelnde Bereitschaft zum Widerspruch ist, aus Angst der Menschen vor den bekannten Folgen. Er fürchtet den Kipppunkt. Denn den ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag Russlands hat er bereits an einem entscheidenden Punkt gebrochen. „Wir hier oben regieren und ihr da unten mischt euch nicht ein, dafür versorgen wir euch und lassen euch im Wesentlichen in Ruhe“, lautet dieser Vertrag. Doch mit der massenhaften Mobilisierung lässt er die Menschen nicht länger in Ruhe, sondern trägt den Krieg zu ihnen nach Hause. Sollte sich überdies die wirtschaftliche und soziale Situation einer großen Zahl von Menschen verschlechtern, so muss er sich ausbreitende Proteste befürchten. „Der russische Bauer spannt lange an, aber dann fährt er schnell“ – dieses Sprichwort ist auch Wladimir Putin vertraut.

Noch ist keine solche Entwicklung zu erkennen, doch der „schwarze Schwan“ taucht plötzlich auf, wie wir wissen. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass Einzelne in der Führung, vor allem im Militär, an einem bestimmten Punkt versucht sein könnten, eine solche Entwicklung zu verhindern, indem sie den Präsidenten stürzen. Die Superreichen, die man einmal Oligarchen nennen konnte, dürften kaum zu Akteuren eines Umsturzes werden, sie würden jedoch zweifellos sofort die Seiten wechseln.

Was wären die Folgen der einen wie der anderen Entwicklung? Möglicherweise würde der Krieg beendet, doch Russland bliebe wohl so autoritär und konfrontativ aufgestellt wie bislang. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass es erneut zu einer Entwicklung wie am Ende der Sowjetunion kommt: zu einer Destabilisierung des gesamten Landes, zu separatistischen Tendenzen. Auch auf solche Szenarien sollten die westlichen Regierungen sich einstellen. Wir müssen, gerade in Deutschland, unsere strategische Analyse- und Handlungsfähigkeit entscheidend verbessern. Dass die Einrichtung eines nationalen Sicherheitsrates am Kompetenzgerangel innerhalb der Bundesregierung gescheitert ist, ist eine Tragödie.

Schließlich: Ist ein vermittelter Friede denkbar? Natürlich. Dies setzt aber voraus, dass beide Seiten in der Lage sind, jenseits eines Waffenstillstandes auf Augenhöhe miteinander zu verhandeln. Die minimale Voraussetzung ist daher, sich einig zu sein sich nicht einig zu sein – "let’s agree to disagree”. Daher müssen wir die Ukraine weiter unterstützen – auch um unserer Freiheit und Sicherheit willen. Und wir sollten ein weiteres tun: Bereits jetzt beginnen Voraussetzungen zu schaffen, damit die russische Seite in einer solchen Situation sich auf einen Frieden einlässt. Wladimir Putin behauptet, Russlands Sicherheit sei bedroht. Das ist faktisch falsch, aber hier lässt sich ja ansetzen: mit Gesprächen über Fragen der Rüstungskontrolle, beispielsweise im konventionellen Bereich und in jenem der Mittelstreckenraketen, mit der Verabredung von vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen. Das ist uns in den siebziger Jahren bereits einmal zu Zeiten großer Konfrontation erfolgreich gelungen. Das bedeutet nicht, irgendwelche schlechten Kompromisse einzugehen oder gar Konzessionen zu machen, vielmehr würde es die Sicherheit aller Seiten erhöhen. Und Wladimir Putin könnte behaupten, für Russland etwas erreicht zu haben. Wäre er bereit, sich auf eine solche Lösung einzulassen? Ja, an einem Punkt, an dem er selbst zu der Abwägung kommt, dass die Fortsetzung eines erfolglosen Krieges seine Macht zu Hause entscheidend gefährdet.

Jörg Hueber: Lassen Sie uns auch eine wirtschaftliche Bestandsaufnahme zum Zustand der russischen Volkswirtschaft wagen.

Rüdiger von Fritsch: Dass die russische Wirtschaft zusammenbricht, steht eher nicht zu erwarten, aber sie geht dunklen Zeiten entgegen. Russland ist ein eigentlich unendlich reiches Land – das einzige Land der Erde, das jeden Rohstoff in ausreichender Menge hat, sich selbst zu versorgen. Doch es ist ein miserabel bewirtschaftetes Land, mit einem völlig antiquierten Geschäftsmodell, das in übergroßem Maße auf den Export fossiler Energieträger und anderer Rohstoffe setzt, statt eine produzierende, innovative und erfolgreiche Volkswirtschaft aufzubauen. Dass dies auch unter autokratischen Verhältnissen möglich ist, hat Russland sein unbequemer Nachbar vorgeführt: China, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde. Die Volkswirtschaft des größten Landes der Erde hingegen war schon vor Kriegsbeginn lediglich so groß wie jene des Staates New York, kleiner als die Italiens.

Nun führt Wladimir Putin sein Land mit seinem Angriffskrieg in eine auch wirtschaftlich düstere Zukunft. Er koppelt es aus den internationalen ökonomischen und innovativen Zusammenhängen aus und macht es zu einem „unzeitgemäßen Land“, wie es der ehemalige Wirtschaftsberater von Präsident Medwedew, Wladislaw Inosemzew formuliert hat. Und er hat hinzugefügt, dass „der jüngste Bruch zwischen dem Westen und Russland nicht als Störung der Globalisierung angesehen werden kann – es handelt sich lediglich um den Schritt einer Nation, die sich freiwillig aus der Weltwirtschaft zurückgezogen hat.“

Der Fokus der Industrieproduktion, Natur und Umfang der Staatsausgaben und regulatorische Änderungen haben dazu geführt, dass Russland inzwischen eine Kriegswirtschaft hat. 2022 wurden die Militärausgaben nachträglich um ein Drittel angehoben, 2023 sollen es noch einmal gut 43 % mehr sein. Ein Drittel des Haushalts für 2023 ist für Aufgaben des Sicherheitsbereiches vorgesehen – Kriegsführung, Geheimdienste, Polizei. Und eine Rekordsumme aller geplanten Ausgaben, ein Viertel, wurde geheim eingestuft – auch diese dürften der Kriegsführung dienen. Zugleich blieb der Gesamtumfang der Ausgaben gegenüber 2022 unverändert. Und Militärausgaben sind vor Inflationseffekten geschützt – bei einer Inflation von knapp 12 % im Jahr 2022.

Weitere Faktoren illustrieren, dass Russland „sich für einen radikalen ‚Nicht-Entwicklungsweg‘ entschieden hat“ wie Inosemzew feststellt. Waren die Bedingungen für ausländische Investitionen in Russland schon vor Kriegsbeginn immer schwieriger geworden, so hat Wladimir Putin durch die dramatische Beschädigung jeglichen Vertrauens sein Land auf lange Sicht „uninvestierbar“ gemacht. 2022 verließen mehr als 1.000 westliche Firmen das Land, die etwa 40 % des russischen Wohlstands erwirtschaftet hatten. Hunderttausende von Menschen haben das Land verlassen, ein Aderlass größer als nach der Oktoberrevolution 1917. Es sind nicht nur die unbequemen Journalisten gegangen, sondern Wissenschaftler, Ärzte, Ingenieure und IT-Experten. Und Russland hat sich selbst von internationaler Finanzierung und vom innovativen Austausch mit führenden Ländern abgeschnitten. Die Verstärkung der Partnerschaft mit China bedeutet für Moskau auch eine gefährliche Abhängigkeit; auf verlockende Angebote der Kooperation werden andere Länder angesichts der Natur der russischen Politik nur mit größter Vorsicht eingehen.

 

Handlungsszenarien für deutsche Familienunternehmen

Jörg Hueber: Aus der Perspektive deutscher Familienunternehmen ergeben sich unterschiedliche Handlungsszenarien. Diese reichen von einer (eingeschränkten) Fortführung der Aktivitäten vor Ort (wenn es rechtlich zulässig und moralisch vertretbar ist) bis hin zur Einstellung der (Vorort-)Aktivitäten. Letzteres impliziert die Kappung eigentumsrechtlicher Verbindungen, d.h. Landesgesellschaften, Liegenschaften etc. Produktionsanlagen werden an staatliche Stellen, russische Unternehmen oder Privatpersonen abgegeben. Etwaige Verkaufserlöse liegen eher deutlich unter den Investitionskosten, vertragliche Vereinbarungen über Rückkaufsoptionen mangeln rechtlicher Sicherheit und die Aussicht auf Entschädigungen ist eher unwahrscheinlich.

Rüdiger von Fritsch: Bereits vor Kriegsbeginn mussten viele deutsche Unternehmen, wie gesagt, erfahren, dass das Russlandgeschäft immer schwieriger wurde: ein Wirtschaftsklima, das eher misstrauisch und abwehrend war denn austausch- und investitionsfreundlich, Nötigung zu lokaler Produktion mit fragwürdigen wirtschaftlichen Aussichten, Angewiesensein auf die Gunst örtlicher Politiker und von Provinzfürsten, eine überbordende Bürokratie, Korruption, mangelnde Rechtsstaatlichkeit. Dennoch ließen sich, auf einem vergleichbar großen Markt und bei oft attraktiven Margen, gute Geschäfte machen. Das hat sich mit dem 24. Februar 2022 grundlegend geändert. Der übergroße Teil deutscher Unternehmen hat hieraus die wirtschaftlich und politisch richtigen wie unabdingbaren Konsequenzen gezogen, das Russlandgeschäft eingestellt oder doch zumindest substanziell zurückgefahren. Das hat schwierige Abwicklungsprozesse unter Zeitdruck bedeutet, schmerzliche Einschnitte und eine belastende Verantwortung für örtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Am schwierigsten wurde es für jene, die „zu viele Eier in einen Korb gelegt“ hatten. Auch hier zeigt sich, welche große Bedeutung geopolitisches Risikomanagement über die letzten Jahre gewonnen hat, wie wichtig es ist, umfassend zu Risiken und Wahrscheinlichkeiten, Chancen und Verwundbarkeiten beraten zu werden. Russlands Krieg in der Ukraine hat hier wie ein Wake-up call für viele Unternehmen gewirkt, die ihr politisches Risikomanagement nun deutlich hochfahren. Insbesondere beobachten wir dies bezüglich China, also einer stärker autoritär und anti-westlich agierenden Regierung in Peking, dem größer werdenden US-China-Konfliktpotential mit Sanktionen sowie Export- und Kapitalkontrollen oder eines möglichen Ausgreifens Chinas auf Taiwan. Aber auch ein möglicher Konflikt mit dem Iran, die Zukunft der Türkei und die US-Wahlen 2024 beschäftigen viele unserer Mandanten.

 
Wie Unternehmen ihr individuelles Political Risk Assessment aufbauen können

Jörg Hueber: Herr Kallmorgen, welche Relevanz erlangt ein Political Risk Assessment in formaler Perspektive? Bestehen bindende Verpflichtungen für die Geschäftsführung und Aufsichtsorgane, sich klaren Vorgaben zu stellen? Sind diese im übergeordneten Rahmen oder einem Kodex subsumiert und wirken somit auf das Pflichtengerüst der Funktionsträger? Oder bestehen übergeordnete freiwillige Selbstverpflichtungen über Grundsätze der Good Governance? Nimmt Political Risk Assessment einen Platz in dem Erwartungskanon von Kapitalgebern entlang einer weit(er) ausgelegten ESG-Interpretation ein?

Jan Kallmorgen: Wir erwarten, dass Political Risk Assessment und Management immer stärker formalisiert werden wird und sich in der Berichterstattung von Unternehmen spiegeln muss, ähnlich wie das beim Thema ESG in den vergangenen Jahren zu beobachten war. Wir sehen eine Pflicht der Geschäftsleitung, Risikomanagement zu betreiben. Führende Rechtsexperten weisen präzisierend darauf hin, dass der Vorstand für die Integration geopolitischer Faktoren in die Strategieentwicklung (siehe auch §76 Abs. 1 HGB – Pflicht des Vorstands zur strategischen Unternehmensplanung) und die Risikosteuerung (siehe u.a. auch §91 Abs. 2 AktG – Risikofrüherkennungssystem) zuständig ist. Der Aufsichtsrat muss geopolitische Kompetenzen aufbauen, die es seinen Mitgliedern erlaubt, insbesondere seiner Überwachungsverantwortung u.a. nach §111 Abs. 1 AktG nachzukommen. In der Kommunikation sind geopolitische Risiken in ihren unterschiedlichen Dimensionen an Kapitalmärkte / Investoren und andere Stakeholder zu vermitteln. Die Dokumentation der geopolitischen Risikoexposition und strategischer Bewältigungsinstrumente ist zumindest im Lagebericht (§289 HGB) darzustellen.

Jörg Hueber: Sehen Sie Unterschiede in der Perzeption von Political-Risk-Assessment-Beratung zwischen Publikumsgesellschaften und Familienunternehmen?

Jan Kallmorgen: Ja, eindeutig. DAX-Unternehmen wie die Allianz, Siemens, BASF, Bayer oder die großen Automobilkonzerne haben In-house-Fachabteilungen mit eigenen Stäben für die systematische Beobachtung und Bewertung des geopolitischen Umfelds, die eng mit relevanten Fachabteilungen, Vorstand, Risikomanagement, Strategie, Legal & Compliance zusammenarbeiten. Kleinere börsennotierte Unternehmen und global agierende Mittelständler bauen nach unserer Beobachtung ihr politisches Risikomanagement aktuell aus. Hier wurden geopolitische Entwicklungen bisher meist eher ad hoc identifiziert, etwa in Krisensituationen oder im Rahmen einer Due Diligence bei M&A-Transaktionen. Eine systematische Risikoanalyse mit Einbettung in die Unternehmenssteuerung findet dort bisher noch selten statt, aber es ist klar erkennbar, dass auch mittelgroße Unternehmen deutlich mehr Ressourcen allokieren, um geopolitische Risiken und Dynamiken zu antizipieren, auf ihren Impact zu analysieren und die Ergebnisse in ihre Geschäftsstrategien und -prozesse zu integrieren. Dabei zu unterstützen ist ja auch das Kerngeschäft von Berlin Global Advisors.

Jörg Hueber: Im aktuellen Kontext: Ist Beratung über Political Risk Assessment in Bezug auf Russland noch notwendig? Ist die Region auf Jahre mindestens wirtschaftlich nicht als verloren anzusehen hinsichtlich Handel und Investitionen? Ich wage die Vermutung eines „Ja“, aber die Frage ist nunmehr, welche Lehren wir daraus ziehen.

Jan Kallmorgen: Die Antwort ist eindeutig „Ja“, Russland ist de facto als Markt und Investitionsstandort für deutsche Unternehmen tot. Und die Lehre ist, dass auch global agierende Mittelständler ein systematisches Geopolitisches Risikomanagement (GMR) aufbauen sollten. Dazu ist es als erstes wichtig, zu definieren, welche Geschäftsbereiche und Märkte von geopolitischen Entwicklungen betroffen sind und diese zu priorisieren, um die Komplexität zu reduzieren. Hierzu bietet sich zunächst eine Priorisierung nach der Top-5-Regel an:

  • Welches sind die fünf wichtigsten Absatzmärkte mit den wichtigsten Kunden?
  • Welches sind die fünf wichtigsten Beschaffungsmärkte, wo sitzen die wichtigsten Zulieferer in der Lieferkette?
  • Welches sind meine fünf wichtigsten Investoren / Anteilseigner? Wo sitzen diese, sind sie geopolitischen Risiken gegenüber exponiert?
  • Welches sind die fünf wichtigsten potenziellen Bruchstellen (Chokepoints) in meinen Logistikrouten und Transportwegen?
  • Woher kommen meine Daten, wie sieht mein globaler IT-Stack aus?
  • Wo plane ich Investitionen, die Eröffnung neuer Produktionsstätten und M&A?

Anhand der Antworten auf diese Fragen sollte eine geopolitische Risiko-Karte des Unternehmens im Sinne eines Status-quo-Reports mit aktuellen und möglichen künftigen Risiken erstellt werden.

Der zweite Schritt ist dann die funktionale Verankerung des geopolitischen Risikomanagements im Unternehmen. Je nach Zuschnitt, Ressourcen und intellektuellem Interesse kann Geopolitik in den Bereichen Kommunikation, Regierungsbeziehung oder Nachhaltigkeit verankert werden. Wir empfehlen jedoch, angesichts der Komplexität des Themas und der Interdependenzen der Themen einen eigenen Stab „Geopolitisches Risikomanagement“ zu schaffen, der sich aus der Expertise dieser Abteilungen bedient und zusätzliche Ressourcen aufbaut oder einkauft.

Für den Aufbau der GRM-Abteilung empfiehlt sich zunächst einen Blick auf die Best Practices bei anderen global exponierten Unternehmen, insbesondere im Hinblick auf Verschiebungen in der geopolitischen Landschaft. Welche Instrumente verwenden Organisationen, um eine sich wandelnde Welt zu analysieren?

Dagegen stellen Unternehmen dann ihr eigenes bisheriges Risk Management und suchen nach Lücken im Vergleich zu Benchmarks: Wichtige Fragen dabei: Haben Sie ein Monitoring-System? Wie erfassen und bewerten Sie politische Risiken? Sind Sie oder Ihre Mitarbeiter in den relevanten Hauptstädten adäquat vernetzt? Danach sollte ein Fahrplan erstellt werden für die notwendigen Anpassungen und ein Budget, das widerspiegelt, welche internen und externen Ressourcen benötigt werden, um sich adäquat zu rüsten.

Es könnte auch Sinn machen, einen „geopolitischen Beirat“ aufzubauen, etwa aus ehemaligen Politikern, Diplomaten, Nachrichtendienstlern oder Militärs. Bei Berlin Global Advisors haben wir 30 solcher Persönlichkeiten unter Vertrag und nutzen diese, um wertvolle Hintergrundinformationen und Einschätzungen zu erhalten, etwa für Vorstands-Briefings, in regionalen Sondersituationen oder Außenhandelsfragen sowie für Szenario-Planungen.

Jörg Hueber: Lieber Herr von Fritsch, lieber Herr Kallmorgen, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.

 

Über die Gesprächspartner

Rüdiger von Fritsch ist einer der besten Kenner Russlands und globaler politischer Zusammenhänge und Partner von Deutschlands führender geopolitischen Strategie- und Unternehmensberatung BGA - Berlin Global Advisors. Er war von 2014 bis 2019 deutscher Botschafter in Moskau und zuvor in selbiger Funktion in Polen. Zudem diente er als Vizepräsident des BND und leitete die Außenwirtschaftsabteilung des Auswärtigen Amtes. Von ihm erschien im Mai 2023 das Buch Welt im Umbruch – was kommt nach dem Krieg?

Jan F. Kallmorgen ist Gründer von Berlin Global Advisors und berät seit 15 Jahren internationale Investoren und Unternehmen an der Schnittstelle von Politik, Kapitalmarkt und Wirtschaft. Er hat zuvor bei Goldman Sachs, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und der European Group for Investor Protection gearbeitet und verschiedene Public-Affairs-Firmen und Think Tanks geleitet. Im Januar 2022 hat er mit Katrin Suder das Buch Das geopolitische Risiko. Unternehmen in der neuen Weltordnung veröffentlicht und publiziert regelmäßig zu Themen der internationalen Politik und Wirtschaft.

Jörg Hueber ist Geschäftsführender Gesellschafter der PETER MAY Family Office Service GmbH & Co. KG und befasst sich mit Themenstellungen der Übertragung von Anteilen an Familienunternehmen innerhalb der Familie, der Öffnung des Gesellschafterkreises, Beratungsleistungen des Kaufs und Verkaufs von Unternehmensbeteiligungen und der beteiligungsstrategischen Diskussion für Familienunternehmen, Inhaberfamilien und Family Offices. Vor seiner Tätigkeit in der PETER MAY Gruppe ist Jörg Hueber mehr als 20 Jahre in international führenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Privatbanken tätig gewesen und hat den M&A-Bereich eines börsennotierten Unternehmens verantwortet.