Warum die kaufmännische Führung eines Familienunternehmens besonders ist

Neben der notwendigen Transparenz der kaufmännischen Kennzahlen steht in einem Familienunternehmen das Bedürfnis nach besonderer Vertraulichkeit. Harald Jessen, CFO des international tätigen Familienunternehmens LINDAL Group aus Hamburg, erklärt im Gespräch mit Jörg Hueber, Geschäftsführender Gesellschafter der PETER MAY Family Office Service, welchen Einfluss dies auf die Führung von Familienunternehmen hat.

Harald Jessen und Jörg Hueber

 

Jörg Hueber: Lieber Herr Jessen, wenn ich an die kaufmännische Führung eines Familienunternehmens denke, dann fällt mir zunächst ein, was ich unter „ideellem Wissen der Familie“ zusammenfassen möchte: Ein nicht unerheblicher Teil der Informationen, über die es sich vermutlich lohnt, Berichterstattung zu üben und damit auch hinreichend Signalfunktionen effizienter Steuerung zu implementieren, verbleibt im Wissen des Prinzipals, mindestens dann, wenn dieser das operative Geschäft verantwortet. D.h. darüber soll gar nicht berichtet werden, da der Prinzipal das eigene Unternehmen und die relevanten Kenngrößen „im Kopf“ hat. Gelegentlich schwingt die latente Befürchtung mit, dass ansonsten Informationen an Dritte gelangen können. Manchmal auch die Eigenschaft, gerne Träger von Herrschaftswissen zu sein.

Harald Jessen: Lieber Herr Hueber, die Situation, die Sie eben beschrieben haben, ist sicherlich noch vorhanden, wird aber zunehmend seltener. Ich nehme vielmehr wahr, dass es weniger um Herrschaftswissen geht, sondern vielmehr um Vertraulichkeit. Unternehmer, die weiterhin täglich tief in das Tagesgeschäft eingebunden sind, verfügen zumeist über ein umfassendes Wissen – nicht nur über die Zahlen, aber auch die Zusammenhänge, die Mannschaft, den Markt etc. Hier braucht es natürlich für einen externen Manager Zeit, sich tief in die Materie einzuarbeiten und auch um das Vertrauen aufzubauen. Davon unbenommen gebe ich Ihnen vollkommen recht, dass eine gute Unternehmensführung die entsprechenden Kennzahlen und Frühwarnindikatoren grundsätzlich personenunabhängig, also durch strukturierte Systeme und Prozesse unterlegen sollte. Dies ist auch aus Gründen der Risikominimierung und Objektivierung relevant. Zudem sollte es eine klar vereinbarte Daten-Governance geben, um den Rahmen der Vertraulichkeit abzustecken.

Jörg Hueber: Die Anzahl der Gesellschafter an Familienunternehmen vermehrt sich von Generation zu Generation, vorausgesetzt, die Anzahl der Abkömmlinge wächst, was häufig der Fall ist. Damit wächst auch die Anzahl derjenigen Familienmitglieder, die keine aktive Rolle im Familienunternehmen einnehmen können, wollen oder dürfen. Wenn auch in den allermeisten Fällen hinsichtlich der Gesellschafterzahl weit weg von einer Publikumsgesellschaft, werden doch gleichzeitig die Anforderungen an eine transparente Berichterstattung gewachsen sein.

Harald Jessen: Ein Familienunternehmen sollte sich schon aus Gründen der internen Effizienz und damit Durchsetzungsfähigkeit gegenüber Wettbewerbern hinsichtlich Führung, Steuerung und Kontrolle modern und professionell aufstellen.

Die Steuerung des Unternehmens sollte dabei nicht allein auf Basis einer, wie in vielen Familienunternehmen noch verbreitet, ertragsseitigen Ebene erfolgen. Vielmehr sollte die wirtschaftliche Steuerung auch um liquiditätsorientierte Kennzahlen wie EBITDA, aber auch EBIT, Cashflow und den Liquiditäts- bzw. Finanzierungserfordernissen der Steuerung des Nettoumlaufvermögens ergänzt werden. Größere Investitionsmaßnahmen sollten durch dezidierte Return-on-Invest-Szenarien unterlegt sein wie auch größere Ausgabenblöcke etwa für besondere Marketingmaßnahmen.

Eine liquiditätsorientierte Berichterstattung richtet sich aber nicht allein an eine Muttergesellschaft, sondern ist vielmehr bis in die operativen Einheiten wie Geschäftsbereichen und Tochtergesellschaftern zu leben, die in Verantwortung des lokalen Managements stehen, welches auch nach entsprechenden liquiditätsnahen Kennzahlen incentiviert sein sollte. Dies kann nicht allein Aufgabe des Mutterunternehmens sein.

In der Berichterstattung gegenüber einer Inhaberfamilie sehe ich eine Detaillierung deutlich differenzierter. Nicht alle Inhaber benötigen eine Auseinandersetzung mit betriebswirtschaftlichen Kennziffern und Controlling-Details, hier kommt es aber immer auf den Einzelfall der faktischen und gewollten Einbindung der Familienmitglieder an. Auf jeden Fall sollte das Rechnungswesen und Controlling in der Lage sein, Einzelabfragen kurzfristig aufbereiten zu können. Wichtige Maßnahmen wie größere Investitionsmaßnahmen und damit verbundene Wirtschaftlichkeits- und Finanzierungsszenarien sollten im Einzelfall einer gesonderten Berichterstattung unterliegen. Ein kaufmännischer Geschäftsführer sollte aber jederzeit in der Lage sein, einzelne Themenstellungen aufzuklären und zu erklären.

Jörg Hueber: Sie sprechen die Rentabilitätsbetrachtung wesentlicher Investitionsprojekte an, die Beachtung von Liquiditätsströmen neben einer reinen Ertragsorientierung. Transportieren wir dies auf das Verhältnis zwischen Familie und Familienunternehmen, so liegt bei vielen Inhaberfamilien auch ein engeres Augenmerk auf Liquiditätsströmen, und zwar in die Ebene der Gesellschafter, sei es über Dividenden oder die Möglichkeit laufender Entnahmen, der Verzinsung individueller Kapitalkonten oder sonstiger Vergütungsformen auf das eingesetzte Kapital. Ein Familienunternehmen wiederum ist für die überwiegende Mehrheit ein wesentliches Bindeglied für die Inhaberfamilie untereinander, die emotionale und an Langfristigkeit ausgerichtete Wertebindung, die übergeordnete Klammer. Beachtet eine Familie ein Familienunternehmen auch als Investitionsobjekt unter Return-on-Invest-Aspekten, d.h. dem bloßen Rentabilitätsvergleich mit anderen Vermögenswerten und Beteiligungsmöglichkeiten. Sollte sie das tun?

Harald Jessen: Ich stimme Ihnen zu, dass das Familienunternehmen Leitbild von Identität, Werteverständnis und auch Leidenschaft für die überwiegende Anzahl ihrer Gesellschafter ist und gleichzeitig die Familie identitätsstiftend und werteprägend ist. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass bei wachsender Anzahl der Mitglieder einer Inhaberfamilie Lebenswege und berufliche Karrierepfade außerhalb des Familienunternehmens entstehen. Die Lebensmodelle der jüngeren Generationen haben sich verändert und gleichen nicht mehr denen vor 20 Jahren, insbesondere gibt es auch ein Leben neben der unternehmerischen Verantwortung. Hier kann es schon sein, dass einzelne Familienmitglieder ihre Beteiligung als Finanzbeteiligung verstehen. Das ist individuell auch völlig nachvollziehbar und unterstützt das Familienunternehmen in seiner langfristigen Ausrichtung, sofern es klare Entscheidungsstrukturen und eine geregelte Governance innerhalb der teilweise weit verzweigten Familienstämme und dem Familienunternehmen gibt.

Nachfolgegenerationen betrachten ihr Vermögen zunehmend gesamthaft. Hierbei ist das Unternehmen eine, wenn auch zumeist maßgebliche Anlageklasse. Als Treiber hinter dieser Entwicklung sind u.a. die Risikodiversifizierung und Sustainability zu sehen. In meiner Aufgabe als CFO, in der das Risikomanagement Teil des Tagesgeschäftes ist, halte ich diese Entwicklung auch für sinnvoll und sogar empfehlenswert.

Die von Ihnen angesprochene Relevanz eines Kennzahlensystems für die Berichterstattung an die Inhaberfamilie nehme ich aus meiner Erfahrung als eher nachgeordnet im Hinblick auf etwaige Renditeanforderungen wahr, sondern vielmehr als Kenngröße unternehmerischer Stabilität und Prosperität sowie nachhaltiger finanzieller Unabhängigkeit. Natürlich besteht ein Interesse an wirtschaftlicher Stabilität, der Gewinnerzielung und Ausschüttung, aber nicht im Sinne einer kurzfristigen „Shareholder Value“-Optimierung, sondern als Indikator langfristiger Stabilität und Vermögenssicherheit. 

Jörg Hueber: Sie sprachen vorhin an, dass Ihr Vorgänger ein transparentes und durchgängiges Reporting etabliert hat. Wenn dies der Fall ist, kann sich ein CFO auf die operativen Themen fokussieren wie aktuelle Themen der finanziellen Implikationen aus veränderten Lieferketten, dem damit einhergehenden Paradigmenwechsel der arbeitsteiligen Just-in-Time-Philosophie, der Anpassung von Projektkalkulationen, der Befassung mit Standorterweiterungen, der Organisation des Wachstums, der Durchführung von M&A-Projekten und der erfolgreichen Integration der finanziellen Berichterstattung übernommener Gesellschaften und Vieles mehr. Worin bestehen Ihre aktuell größten Herausforderungen?

Harald Jessen: Herr Hueber, lassen Sie mich eine Bemerkung vor die Klammer ziehen. Der CFO ist heute und übrigens schon seit längerem weit mehr als der „Zahlendreher“. Die Zeit der Fokussierung auf das Zahlenwerk und das reine Financial Reporting, dessen Perspektive zumeist ex-post ist, sind endgültig vorbei. CFOs sind heute u.a. maßgeblich in die Entwicklung und Umsetzung der strategischen Agenda, die Digitalisierung der Prozesse und die vorausschauende Unternehmenssteuerung aktiv eingebunden. Und auch ein Reporting ist ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess und sollte heute weit über das Financial Reporting hinausgehen. Viele weitgehend statischen Prozesse und Modelle sind in der heutigen „VUCA-Welt“ nicht mehr zeitgemäß.

Wie verändern sich die globalen Lieferketten, wie stelle ich meine Lieferfähigkeit und Kundenzufriedenheit bei teilweise disruptiven Wertschöpfungsketten sicher und kann auch noch alles solide finanzieren? Natürlich beschäftigen uns auch all diese Themen im Tagesgeschäft. Daneben arbeiten wir an unserer Wachstumsstrategie, der weiteren Digitalisierung, unserer People-Agenda und dem allgegenwärtigen Thema Nachhaltigkeit, was in einem Familienunternehmen schon von jeher eine besondere Bedeutung hat.

Und natürlich entwickeln wir diese Themen mit unseren lokalen Managementteams, wodurch wir schnelle und kurze Entscheidungswege sicherstellen. Gleichzeitig ziehen wir aus den Entwicklungen der letzten Monate und Jahre unsere Schlüsse für die weitere Unternehmenssteuerung sowie mittel- bis langfristige Investitions- und Finanzierungsstrategie.

Jörg Hueber: Gibt es eine Vermengung von finanziellen Interessen auf, einerseits, Ebene des Familienunternehmen, d.h. Gesellschaftsebene sowie andererseits der Gesellschafterebene, laufen die jeweiligen Interessen immer deckungsgleich? Denken wir an die Interessenabwägung zwischen Thesaurierung und Ausschüttung, der Investitionspolitik, Liquiditätssteuerung und Darlehensaufnahme?

Harald Jessen: Meine Erfahrungen beziehen sich auf die Zusammenarbeit mit sehr unternehmerisch geprägten Inhabern mit klarem Vorrang der Interessen des Familienunternehmens. Ein wirtschaftlich stabiles Familienunternehmen ist nach meiner Einschätzung ein sehr wesentlicher Faktor für den Zusammenhalt einer Inhaberfamilie, es ist ein wesentliches Mitglied der Familie, ein bindender Bezugspunkt.

Ganz sicher in der Theorie und hin und wieder in der Praxis kann die Höhe der Ausschüttungsbemessung in die Sphäre der Gesellschafter den Selbstfinanzierungsinteressen des Familienunternehmens entgegenstehen. Andererseits haben die Inhaber ein hohes Interesse an der wirtschaftlich nachhaltigen Stabilität des Familienunternehmens und sind in der Lage, rationale Entscheidungen zu treffen. Aber natürlich beobachte ich auch eine übergeordnete Entwicklung in einzelnen Familien, neben dem Familienunternehmen eine zweite Säule, etwa eine Family-Office-Struktur zu errichten, um wirtschaftliche Chancen und Herausforderungen auszubalancieren, zu diversifizieren. Beide Säulen können sich unter entsprechender Governance gegenseitig stützen. Und natürlich kann in die Gesellschaftersphäre entnommene Liquidität dem Unternehmen etwa über Gesellschafterdarlehen auch wieder zur Verfügung gestellt werden.

Jörg Hueber: Was sind die Beweggründe, CFO eines Familienunternehmens zu sein und nicht in einer Publikumsgesellschaft? Denken wir etwa an Möglichkeiten einer variablen Vergütung insbesondere dem Erwerb von virtuellen oder realen Anteilen? Gelegentlich kann man den Eindruck gewinnen, das Prestige wäre höher in einer Kapitalgesellschaft? Oder gerade nicht?

Harald Jessen: Denken und Handeln sind vornehmlich langfristig und entlang einer Wertestruktur angelegt und orientieren sich weniger an Quartalsergebnissen. Persönlich schätze ich das unternehmerische Element und die schnelle Verantwortungsübernahme sowie den Pragmatismus gepaart mit dem gesunden Menschenverstand sehr. Und wer sagt Familienunternehmen hätten kein Prestige? Ich denke das liegt im Auge des Betrachters. Die vielen kleinen und großen Hidden Champions in Deutschland haben auf mich eine große Anziehungskraft.

Jörg Hueber: Was sind Vorteile, einen familienfremden CFO anzustellen gegenüber einem familieninternen? Gerade bei mehreren Stämmen sehen wir die Vorteile, dass ein Familienfremder die Datengrundlage erstellt und verantwortet, auf deren Ebene etwa Ausschüttungen oder Investitionserfordernisse beschlossen werden. Ist aber das Arbeiten mit einer Familie mit verschiedenen Gesellschaftern, die möglicherweise fachfremd sind gegenüber einer Situation als CFO einer Publikumsgesellschaft, bei der professionelle Kapitalgeber bestehen, nicht deutlich anspruchsvoller? Gerade für einen rational geprägten Experten wie einem CFO?

Harald Jessen: Familienunternehmen setzen im Gegensatz zu Publikumsgesellschaften zumeist einen stärkeren Akzent bei dem „Cultural Fit“. Und dies vor dem Hintergrund, das familiäre Beziehungen zumeist nicht rational sind. Ich schätze diese persönliche Interaktion und gleichzeitig Herausforderung, die wie Sie sagten, abseits der Fakten und manchmal auch Rationalität liegt. Externe CFOs verfügen über eine Objektivität und gewisse emotionale Unabhängigkeit, die ein Familienmitglied schwerlich haben kann. Zudem bieten andere Erfahrungshintergründe – ob aus Publikums- oder Familienunternehmen – auch andere Perspektiven, wodurch neue Impulse gesetzt werden können.

Jörg Hueber: Lieber Harald Jessen, herzlichen Dank für unseren Austausch.

 

Über die Gesprächspartner

Harald Jessen ist CFO bei dem internationalen Familienunternehmen LINDAL Group Holding GmbH in Hamburg. Er verfügt über langjährige Erfahrungen in leitenden Funktionen international erfolgreicher Familienunternehmen. Neben der LINDAL Group Holding gehören dazu die Friedhelm Loh Group, Knorr-Bremse AG, die Bauer Media Group sowie der Aufsichtsratsvorsitz bei der ELAFLEX HIBY GmbH & Co. KG.

Jörg Hueber ist Geschäftsführender Gesellschafter der PETER MAY Family Office Service GmbH & Co. KG und befasst sich mit Themenstellungen der Angemessenheit und Aktualität der Vermögensverteilung in Inhaberfamilien, der Übertragung von Anteilen an Familienunternehmen innerhalb der Familie, zu Abfindungsregelungen für Gesellschafter bei Kündigung ihrer Gesellschafterrolle, zu Fragestellungen der Öffnung des Gesellschafterkreises sowie mit Beratungsleistungen des Kaufs und Verkaufs von Unternehmensbeteiligungen für Familienunternehmen, Inhaberfamilien und Family Offices. Vor seiner Tätigkeit in der PETER MAY Gruppe ist Jörg Hueber mehr als 20 Jahre in international führenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Investmentbanken tätig gewesen und hat den M&A-Bereich eines börsennotierten Unternehmens verantwortet.