Jörg Hueber: Lieber Thomas Tomkos, betrachten wir vereinfachend große kapitalmarktnotierte Publikumsgesellschaften mit nicht-notierten (ebenfalls großen) Familienunternehmen als unterschiedlich in der Ausgestaltung von Aufsicht und Entscheidungsfindung auf Ebene ihrer Inhaber. Worin bestehen besondere Herausforderungen für die Kriterien einer Personalbesetzung von Führungsvakanzen in einem Familienunternehmen? Sind Personalbesetzungen in Publikumsgesellschaften aufgrund höherer Formalisierungen nicht effizienter, rationaler und damit vielleicht erfolgreicher durchzuführen als in einer Situation, in der insbesondere auch die spezifischen Charaktereigenschaften, insbesondere auch emotionaler Faktoren, auf Seiten der Inhaberfamilie zu berücksichtigen sind? Sind die Anforderungen an ein Assessment beider Seiten, d.h. Suchenden und Gesuchten nicht unweit komplexer, wenn neben der fachlichen Perspektive auch eine Einschätzung der persönlichen Kompatibilität mit der Eigentümerfamilie zu berücksichtigen ist?
Thomas Tomkos: Man könnte eigentlich auch genau umgekehrt argumentieren. Schließlich macht der direkte Zugang zu den Eigentümern im Familienunternehmen viele Aspekte greifbarer, die sonst verdeckt, aber trotzdem vorhanden sind. Aber, um direkt zu antworten: Es bestehen übergeordnet gar keine so gravierenden Unterschiede zwischen den beiden gegenübergestellten Organisationsformen. Sowohl bei Publikumsgesellschaften, wie auch in Familienunternehmen kann es mehrere größere Gesellschaftergruppen mit eigener Interessensvertretung im Aufsichtsgremium geben, die ihre Repräsentanten wählen; Gesellschafterverträge regeln in beiden Fällen die Grund- und Leitsätze von Unternehmenszielen, Kontrolle, Mitbestimmung und Aufsicht. Aber sicherlich ist es so, dass emotionale Faktoren in der Entscheidungsfindung in Gremien von Familienunternehmen eine sichtbarere Relevanz haben als in anderen Organisationsformen. Nur, die emotionale Komponente ist in beiden Formaten nicht zu unterschätzen: Auch in Publikumsgesellschaften ist das persönliche Zusammenspiel zwischen Gesellschaftern oder ihren Repräsentanten, mit Aufsichtsräten und Geschäftsführern nicht irrelevant. Nur ist die Notwendigkeit, das gegenseitige Assessment bei Vertretern von Inhaberfamilien tiefgreifender anzugehen wichtig. Die bisweilen große Nähe zu den Eigentümern im Alltag erfordert eine Einschätzung, die vergleichbar intensiv sein sollte, wie die der Zusammenarbeit mit Geschäftsführungs- oder Vorstandskollegen.
Jörg Hueber: Ein relevanter Teil der Familienunternehmen verfügt über eine langjährige, generationenübergreifende Historie, häufig verbunden mit einer anwachsenden Gesellschafterzahl über die Generationen, die sich, je nach Größe, über verschiedene Familienzweige verteilen. Die Maßstäbe und Anforderungen an Führungspersonal können hier sehr unterschiedlich sein, sowohl zwischen Familienmitgliedern einer gleichen Generation wie auch zwischen verschiedenen Generationen. Welche Implikationen ergeben sich daraus für die Meinungsbildung und die Präzisierung eines Personalprofils? Erfolgt die Mandatierung einer Personalbesetzung, losgelöst von der Institutionalisierung der Gremien, durch mehrere Personen, Vertreter von Familienstämmen, und inwieweit ist dabei auf die Meinungen, Vorstellungen, Erwartungen dieser Personen einzugehen, insbesondere, wenn diese doch ganz unterschiedlich sein können?
Thomas Tomkos: Hier, wie auch in vielen anderen Aufstellungen, stellt sich zunächst die Frage, ob jemand das Gremium und die Entscheidungsfindung dominiert. Besteht eine professionell aufgestellte und unabhängige Governance? Gibt es ‚dennoch‘ eine dominante Person, die davon abweicht, etwa der allwissende Gründer oder jemand aus der zweiten Generation mit jahrzehntelanger Erfahrung im Unternehmen? Strukturell hängt dies oft von der Historie des Unternehmens, der Größe des Gesellschafterkreises, der Erfahrung außerhalb des Unternehmens oder auch mit guter und gelebter Governance zusammen. In Unternehmen mit langer Historie über mehr als vier bis fünf Generationen und entsprechend großem Gesellschafterkreis ähnelt die Governance oftmals sehr derjenigen von Publikumsgesellschaften. Allerdings spüren Kandidat und Berater im Besetzungsverfahren jeden nicht schwelenden Konflikt und jede Anspannung im Entscheidergremium. Dies kann schon bei der Ausformulierung des Anforderungsprofils eine Herausforderung darstellen und bedarf eines ausgeprägten Fingerspitzengefühls und bisweilen auch einer sehr entschiedenen Führung durch den Berater. Diese Führung setzt sich dann in den Gesprächen mit Kandidaten und deren Bewertung fort – ein „dem Klienten nach dem Mund reden” hilft hier nicht. Was ist die fundierte Evidenz für die Bewertung durch die unterschiedlichen Eigentümerkreise? Wie entspannt man Stellvertreterkonflikte, die in das Besetzungsverfahren zu gelangen drohen? Das sind Besonderheiten, die in Publikumsgesellschaften so seltener als in Familienunternehmen auftreten. Und die in Einzelfällen auch dazu führen können, dass es sinnvoller ist ein Mandat abzulehnen, wenn absehbar ist, dass keine konstruktive Einigung möglich ist und Reputationsschäden für Kandidaten, Berater aber vor allem auch Unternehmen drohen.
Jörg Hueber: Jede Neubesetzung folgt der absehbaren Beendigung der Ausübung durch einen Vorgänger und die Erwartung einer erfolgreichen Neubesetzung kann auch auf Basis unterschiedlicher Erfahrungen und Einschätzungen von Mitgliedern der Inhaberfamilie geprägt sein. Wie zeitintensiv ist das Austarieren eines Stellenprofils mit der Inhaberfamilie? Inwieweit sind Sie dabei überhaupt einbezogen?
Thomas Tomkos: Die Ausarbeitung des Stellenprofils ist ein zentraler Teil unserer Arbeit, die allerdings oftmals früher beginnt, idealerweise schon während der Vorüberlegungen einer Neubesetzung. Die Motive dieser Überlegungen mit den zentralen Akteuren zu besprechen ist ein wichtiger Ausgangspunkt zum Verständnis der Ziele einer Neubesetzung, der Ausformulierung des Profils vor allem aber auch der erfolgreichen Besetzung. Zumeist ist dabei das Feinjustieren des Profils zeitintensiv: einerseits, da sich zwischen dem intuitiven Verständnis eines Familienvertreters und einer operationalisierbaren Profileigenschaf gehöriger Klärungsbedarf verbergen kann, andererseits weil sich bei einer Vielzahl von Akteuren, z.B. Familienstämmen, divergierende Ansichten hier besonders prägnant deutlich machen.
Jörg Hueber: Befassen wir uns mit der Antizipation des zukünftigen Miteinanders zwischen neuer Geschäftsführung (durch einen Familienfremden) mit einem Eigentümer, der nach eigener Geschäftsführungsfunktion in das Aufsichtsgremium des Familienunternehmens gewechselt ist (Vorsitz des Aufsichtsrats oder Beirats). Welche Implikationen ergeben sich aus dieser Konstellation an ein funktionierendes Wechselspiel zwischen Prinzipal und Geschäftsführer? Sind die Freiheitsgrade eines neuen Geschäftsführers in Nachfolgefunktion nicht ‚intrinsisch‘ eingeschränkt?
Thomas Tomkos: Hier legt man oftmals den Sensor an den Nerv an. Wie ernsthaft ist es dem Prinzipal mit der Übergabe der Geschicke in die Hände des Neuen? Welches Rollenprofil ist schlussendlich gesucht, der „Handlanger“ oder der echte Geschäftsführer? In jedem Fall jedoch gilt es Geduld für das Wachsen einer Vertrauensbeziehung auf beiden Seiten mitzubringen. Und erst so entstehen die Freiheitsgrade, die für eine neue Geschäftsführung auch entscheidend sind. Dabei gilt es neben trotzdem die „ideellen” Fundamente des Unternehmens und der Familie zu wahren, ob dies nun der besondere Umgang mit einer besonderen Produkttechnologie, eine Region, einzelne Aspekte der Marke oder Außenwirkung oder der Verschuldungsgrad sind. Nicht immer ist hier nur das kühle Kalkül angemessen, auch die Historie und Tradition des Unternehmens gilt es zu verstehen. Die Familie wiederum ist gut beraten neue Impulse zunächst mit Neugier und Offenheit zu beleuchten – ansonsten vergibt man sich wichtige Chancen und Impulse. Und natürlich gilt es, der neuen Geschäftsführung Freiraum für Entscheidungen zu geben – ein Büro neben der Geschäftsführung mit wöchentlichem Jour-Fixe zu allen operativen Entscheidungen wird kaum ein gestandener Geschäftsführer oder Vorstand lange mit sich machen lassen.
Jörg Hueber: Wie können einem Geschäftsführer hinreichend Freiheitsgrade eingeräumt werden, wenn auch Familienmitglieder und damit Gesellschafter in der Geschäftsführung aktiv sind?
Thomas Tomkos: Das kommt der Quadratur des Kreises nahe und gelingt selten gut. Die Ausnahme ist die Übernahme der CEO-Funktion durch das Familienmitglied und die dann anschließende Gewinnung der weiteren Geschäftsführungs- oder Vorstandsmitglieder. In einem solchen Fall ist die Entscheidungsmechanik von vornherein geklärt.
Jörg Hueber: Können in Familienunternehmen im Vergleich zu Publikumsgesellschaften vergleichbar attraktive Vergütungspakete strukturiert werden? Denken wir etwa an die Möglichkeit des Erwerbs von Anteilen, virtuellen Beteiligungsprogrammen und Ähnlichem?
Thomas Tomkos: Was die Höhe angeht, ist es vielen Familienunternehmen wichtig, nicht systematisch Nachteile in der Rekrutierung aufgrund von deutlichen Vergütungsgefällen hinzunehmen. Allerdings gibt es neben den harten Zahlen durchaus auch Faktoren, die positiv einzahlen. Dazu gehören beispielsweise die intrinsisch gegebene Motivation zur Nachhaltigkeit, schließlich soll das Unternehmen an die nächste Generation übergeben werden, ebenso wie ein oftmals authentisch durch die Gesellschafter verkörperter Purpose. Es ist für viele Führungskräfte auch attraktiv eine größere Nähe zu Gesellschaftern zu haben und somit auch Entscheidungen direkter abstimmen zu können als in den meisten Publikumsgesellschaften. Auf der anderen Seite ist es eher nachteilhaft, dass die variable Vergütung oftmals einer gewissen Eratik ausgesetzt ist, die bei Kapitalgesellschaften und im Private-Equity-Umfeld durch klare Regelungen zu Performance und Kennziffern berechenbarer und transparenter ist. Auch fangen viele Familienunternehmen erst langsam an, langfristige Anreizsysteme anzuwenden (LTI), der Erwerb von Anteilen am Familienunternehmen scheint immer noch die Ausnahme – auch das ein Nachteil insbesondere gegenüber Private-Equity- Portfoliounternehmen. Überraschend ist, dass obwohl aufgrund eigener Aktivitäten im Portfolio viele Familien Incentive-Programme und Virtuelle Shares bei Venture Capital und Private Equity kennen, und der Umgang damit, die Motive und positive Förderung von Leistung bekannt sind, diese trotzdem im eigenen Unternehmen selten Anwendung finden. Dabei verhindern gut gestaltete LTIP Kurzfristdenken, was Familien mit genuinem Interesse an langfristiger Bindung sehr entgegenkommt. Der für viele Führungskräfte charmante Direkteinstieg ist nach wie vor die absolute Ausnahme.
Jörg Hueber: Wir haben eben über die Notwendigkeit strategischer Freiheitsgrade für die Führung eines Familienunternehmens gesprochen. Ist das Niveau dieser Freiheitsgrade ähnlich bei der Führung eines Family Offices? Wenn sich die Familie aus der operativen Führung des Familienunternehmens zurückgezogen hat, obliegt dann mehr Augenmerk auf dem privaten Vermögen? Obwohl doch das Familienunternehmen auch privates Vermögen ist.
Thomas Tomkos: Die Situation eines Family Offices ist ein besonderer Fall: Einerseits ist oftmals aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen Aktivitäten die Familie grosso modo die Eigentümerfamilie nicht in der Lage operative Details immer zu bewerten, andererseits, ist durch die Natur der Vermögensverwaltung die Nähe gewünscht sehr groß. Ich erlebe entsprechend beide Extrema: die vollständig involvierte Unternehmerfamilie mit expliziter Übernahme von Einzelverantwortlichkeit und auch die weit entfernten Folgegenerationen mit ausschließlich quantitativer Renditeorientierung. Letzte lässt Freiräume in sehr vergleichbaren Umfang, wie Kapitalgesellschaften.
Jörg Hueber: Kann ein CFO beide Funktionen ausüben, die Führung eines Familienunternehmens und parallel die Führung eines Family Offices für die Inhaberfamilie? Etwa in der Funktion einer Doppelrolle in einer Familienholding?
Thomas Tomkos: Das kommt vereinzelt schon vor, insbesondere, wenn auch die Führung des Familienunternehmens als weitestgehende Portfoliosteuerung verstanden wird. Ganz glücklich ist diese Doppelfunktion aber nicht, denn wie soll in einem solchen Fall ohne Interessenskonflikt eine Investitionsentscheidung oder Dividendenausschüttung beurteilt werden? Der Konflikt ist hier vorgezeichnet. Im Rahmen einer breiteren Führungsaufstellung mit CEO und CFO lässt sich dieser Konflikt gut auflösen. Dabei sollte immer erinnert werden, dass das Familienunternehmen in erster Linie sich selbst und seiner Fortführung dient, d.h. breiten Adressatenkreisen wie Arbeitnehmern, Kunden, Lieferanten, Finanzierungspartnern und den Gesellschaftern. Das Family Office dient in erster Linie der Familie. Dabei gilt es allerdings Liquiditätstransfers zwischen den Ebenen Familienunternehmen und Family Office zu vermeiden.
Jörg Hueber: Inwieweit unterscheiden sich strukturell Anreizvergütungssysteme für Geschäftsführer in Familienunternehmen und Family Offices?
Thomas Tomkos: Zentral fällt vor allem der Mangel an genuin ausformulierten und quantifizierten strategischen Zielen auf.
Jörg Hueber: Lieber Thomas Tomkos, haben Sie Dank für unseren Gedankenaustausch.
Über die Gesprächspartner
Thomas Tomkos ist Partner der international führenden Personalberatung Russell Reynolds Associates. Er verantwortet die deutsche Board and CEO Advisory Practice und ist weiterhin einer der Senior Partner, die die europäische Praxisgruppe für Familienunternehmen koordinieren. Er besetzt im Schwerpunkt Positionen mit Gremiumseinbezug (Vorstand, Geschäftsführung, Aufsichtsrat, Verwaltungsrat, Beirat) und betreut ebenso allgemeine Beratungsprojekte auf Ebene der Aufsichtsgremien, darunter Effektivitätsprüfungen, Benchmarkings und weiteres.
Jörg Hueber ist Geschäftsführender Gesellschafter der PETER MAY Family Office Service GmbH & Co. KG und befasst sich mit Themenstellungen der Übertragung von Anteilen an Familienunternehmen innerhalb der Familie, zu Abfindungsregelungen für Gesellschafter bei Kündigung ihrer Gesellschafterrolle, zu Fragestellungen der Öffnung des Gesellschafterkreises sowie mit Beratungsleistungen des Kaufs und Verkaufs von Unternehmensbeteiligungen für Familienunternehmen, Inhaberfamilien und Family Offices. Vor seiner Tätigkeit in der PETER MAY Gruppe ist Jörg Hueber mehr als 20 Jahre in international führenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Privatbanken tätig gewesen und hat den M&A-Bereich eines börsennotierten Unternehmens verantwortet.