Ein Masterplan für Deutschland

In seinem KLARTEXT vom 31. August 2021 entwirft Prof. Dr. Peter May einen Arbeits- und Prüfkatalog für die neue Bundesregierung.

Klartext

 

Liebe Familienunternehmerinnen, liebe Familienunternehmer!

Die bevorstehende Bundestagswahl ist keine gewöhnliche. Auch wenn die Kandidaten der aussichtsreichsten Parteien dies so gut es geht zu verbergen suchen, entscheidet diese Wahl über unsere Zukunft. Seit Jahren schon befinden wir uns im permanenten Krisenmodus, der Ausnahmezustand ist zum Normalzustand geworden. Und das nicht ohne Grund. Unsere Art zu leben, stößt an ihre Grenzen. Wenn es uns und unseren Kindern auch morgen noch gutgehen soll, brauchen wir eine umfassende Renovierung, nicht nur aufgeregtes Krisenmanagement oder einlullende Beschwichtigung. Wir brauchen Staatsmänner und Staatsfrauen, nicht nur Tagespolitiker. Denn wie wir morgen leben, hängt davon ab, wie wir die Weichen jetzt stellen. Insbesondere in den folgenden zehn Handlungsfeldern müssen wichtige Grundsatzentscheidungen getroffen und umgesetzt werden. Und zwar schnell, umfassend und konsequent.


1. Deutschland muss zum Vorreiter bei der Nachhaltigkeit werden


Der Wechsel vom derzeitigen Ausbeutungs- zu einem nachhaltigen Wirtschaftsmodell ist die Jahrhundertaufgabe unserer Generation. Und die drängendste. Unsere Uhr läuft ab. Der Klimawandel steht nicht bevor, er ist bereits in vollem Gange. Und seine Folgen werden vielfältig und furchtbar sein. Viel Zeit zur Korrektur bleibt nicht mehr. Wenn wir weiter gut leben wollen, müssen wir jetzt handeln.

Auch wenn das kleine Deutschland nicht die ganze Welt retten kann; ein Vorbild für nachhaltiges Leben und Wirtschaften können wir schon sein. Die neue Bundesregierung hat deshalb drei Aufgaben: Sie muss klare Nachhaltigkeitsziele definieren und Maßnahmen festlegen, die notwendig sind, um diese Ziele zu erreichen, eine faire und gerechte Verteilung der damit verbundenen Zusatzlasten sicherstellen und dafür sorgen, dass Deutschlands Unternehmen nicht nur führend in Sachen Nachhaltigkeit werden, sondern zugleich Innovationsführer bei nachhaltigen Technologien und Geschäftsmodellen. Nachhaltigkeit kann und muss die Basis unseres Wohlstands von morgen sein. Der German Mittelstand der Zukunft sollte aus dem Nachhaltigkeitssektor kommen.

 

2. Wir brauchen eine große Digitalisierungsoffensive

Unsere Welt befindet sich in einem weiteren großen Transformationsprozess. Das Industriezeitalter mit seinem auf Stahl und Energie beruhenden Wohlstandskonzept wird in ein digitales, informations- und datengetriebenes transformiert. Die Zukunft unseres Lebens und Wirtschaftens folgt immer weniger industriellen, und immer mehr digitalen Logiken. Und es wird entscheidend darauf ankommen, wie gut sich die einzelnen Volkswirtschaften auf diese Veränderung einstellen. Wer vorne ist, gewinnt, wer nachhängt, wird abgehängt. Das war in der Industriellen Revolution so, und das ist jetzt wieder so.

Deutschland hängt in Sachen Digitalisierung weit zurück. Das hat die Corona-Krise schonungslos offenbart. Diesen Rückstand schnellstmöglich und auf allen Ebenen (Infrastruktur, Verwaltung, Schulen, Universitäten, Unternehmen etc.) aufzuholen und Deutschland vom digitalen Nachzügler zum digitalen Innovator zu machen, muss die zweite große Priorität der neuen Bundesregierung sein.

Dazu gehört dann aber auch, dass alle Fragen, die mit Datenbesitz, Datenschutz, Internet- und Cyberkriminalität zusammenhängen, schnellstmöglich und umfassend angegangen werden. Wir leben in einer neuen digitalen Realität. Sie darf nicht mit einem weniger an Rechtsstaat, Sicherheit und Rechtsschutz einhergehen.

 

3. Deutschland muss Unternehmerland sein

Wenn Deutschland wirklich ein Land der Ideen und Innovationen sein will, dann braucht es mutige Unternehmer. Menschen, die als „kreative Zerstörer“ im Geiste eines Joseph Schumpeter neue und bessere Lösungen dort suchen, wo andere nur Probleme sehen. Und die den Mut und die Kraft haben, solche Ideen auch durchzusetzen, wenn alle anderen lieber am Bestehenden festhalten wollen.

Machen wir uns nichts vor: Deutschland ist kein Unternehmerland. Adelsdynastien, hohe Militärs und Beamte galten in der Geschichte des Landes schon immer mehr als der zu Wohlstand gekommene „Koofmich“. Und auch Karl Marx und seine unternehmerfeindliche Philosophie haben in der Kultur des Landes ihre Spuren hinterlassen. Linke sehen im Unternehmer immer noch mehr den Ausbeuter als den Wohlstandsbringer.

Wenn Deutschland seinen Wohlstand bewahren will, braucht es den „guten“ Unternehmer – junge Entrepreneure und gestandene Familienunternehmer vor allem. Und nicht nur einige wenige Ausnahmetalente, sondern möglichst viele und einen breiten unternehmerischen Mittelstand. So etwas entsteht nicht von selbst, es braucht geeignete Rahmenbedingungen. So wie schon nach dem Zusammenbruch des Naziregimes und der Zerstörung durch den Weltkrieg, brauchen wir jetzt wieder eine Unternehmeroffensive für den tiefgreifenden Umbau unserer Wirtschaft in das Zeitalter von Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Dass wir das können, haben wir schon einmal bewiesen. Lassen Sie es uns nochmals tun.

Die neue Bundesregierung muss dafür die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Sie muss endlich für ein vorurteilsfreies Unternehmerbild in der Gesellschaft sorgen und die Aufnahme unternehmerischer Tätigkeit, insbesondere in den beiden zukunftsweisenden Bereichen Nachhaltigkeit und Digitalisierung, aktiv unterstützen. Ich denke hier weniger an Steuererleichterungen, Subventionen und Finanzhilfen – diese klassischen Instrumente schaffen nur Abhängigkeit und Ungleichheit –, sondern an echte staatliche Beteiligungen an Erfolg versprechenden Geschäftsideen. Ein solcher „Deutschlandfonds“ würde das Schaffen von Wohlstand zu einer echten Public Private Partnership machen und gewährleisten, dass nicht nur das Investitionsrisiko, sondern auch der Investitionserfolg geteilt wird. Stellen wir uns einen Moment vor, an der BioNTech hätten sich damals nicht nur die Strüngmann-Brüder, sondern auch ein solcher „Deutschland-Fonds“ beteiligt.

 

4. Vorfahrt für einen gemeinwohlorientierten Kapitalismus

Deutschland hat sich nach dem Krieg unter dem Eindruck von Weimar und Nationalsozialismus für eine besondere Spielart des Kapitalismus entschieden. Dieser sogenannte „Rheinische Kapitalismus“ ist in Artikel 14 unserer Verfassung fest verankert und markiert einen eigenen, dritten Weg zwischen den unbefriedigenden Versprechen von Sozialismus („Armut für alle“) und angelsächsischem Liberalkapitalismus („Reichtum für wenige“). Basierend auf der Gemeinwohlbindung des Eigentums („Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch muss zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“) entwickelten Müller-Armack und Erhard die Idee einer sozialen Marktwirtschaft, die „Wohlstand für alle“ (so der Titel des berühmten Buches von Ludwig Erhard) schaffen sollte.

Bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hat dieses Modell gut funktioniert. Mit dem Zusammenbruch des Sowjet-Kommunismus und der sich anschließenden Globalisierung des US-Kapitalismus ist es jedoch zunehmend in die Defensive geraten – leider auch hierzulande. Die negativen Folgen sind längst zu besichtigen: Die Schere zwischen Reich und Arm öffnet sich wieder, der Mittelstand ächzt und schrumpft und an die Stelle des sozial verantwortlichen Familienunternehmers tritt der kühl kalkulierende Finanzinvestor. Wer eine fortschreitende gesellschaftliche Spaltung und amerikanische Zustände verhindern möchte, muss eine Revitalisierung des „Rheinischen Kapitalismus“ in Angriff nehmen. Nicht zaghaft und ein bisschen, sondern mutig und konsequent.

Ich wünsche mir, dass die neue Bundesregierung unmittelbar nach den Bundestagswahlen eine kraftvolle Kommission damit beauftragt, eine Art „Neue Wirtschaftsverfassung für Deutschland“ zu entwickeln. Diese Wirtschaftsverfassung muss nicht nur ein klares Bekenntnis zu einem gemeinwohlorientierten Kapitalismus enthalten, sondern auch in wenigen Leitsätzen formulieren, was wir in Deutschland darunter verstehen und welche Folgerungen sich daraus für die praktische Politik ergeben. Das Resultat muss und wird ein umfassender Umbau unseres Zivil- und Steuerrechts sein. Es wird unternehmerische Tätigkeit begünstigen, die neben dem Eigennutz des Eigentümers auch den Gemeinnutz für den Rest der Gesellschaft mehrt – und zwar konsequent und auf allen Ebenen. Und umgekehrt all diejenigen stärker belasten, deren wirtschaftlicher Erfolg mehr oder minder nur ihnen selbst zugutekommt. Oder finden Sie nicht, es macht einen Unterschied, ob jemand sein Geld mit einer kleinen Vermögensverwaltung verdient oder ob er hunderten oder gar tausenden Menschen Brot und Arbeit gibt? Einfacher ist längst das erstere, wichtiger das letztere. Ein gemeinwohlorientierter Kapitalismus braucht den Unternehmer mehr als den Investor.

Eine solche Differenzierung ist keine unzulässige Ungleichbehandlung, sondern die Erfüllung einer Forderung, die unsere Verfassung seit ihrer Entstehung erhebt. Unser Grundgesetz hat das Eigentum nie per se unter Schutz gestellt, sondern nur in der Verbindung mit der Gemeinwohlverpflichtung. Die Konkretisierung dieser Forderung wäre ein wahrhaft großer Schritt, vielleicht sogar ein Jahrhundertwerk. Er hätte das Potenzial, den alten Gegensatz zwischen dem „Kapital“ und dem Rest der Gesellschaft zu versöhnen. Und es wäre zugleich der Schlüssel für ein auch gesellschaftlich innovatives Deutschland.


5. Gesellschaftliche Spaltung stoppen – sofort!


Die Krisen, die durch unsere Art zu leben und zu wirtschaften hervorgerufen werden, häufen sich und folgen in immer kürzeren Abständen aufeinander (zuletzt Finanzkrise, Eurokrise, Covidkrise, Klimakrise). Und immer häufiger greifen Staaten und Staatengemeinschaft in ihrer Verzweiflung zum scheinbar letzten Mittel, um einen Zusammenbruch des Systems zu verhindern: Sie fluten die Märkte mit zinslosem Geld.

Vordergründig hat das ganz gut funktioniert. Immerhin wurde ein Kollaps der Finanzmärkte bislang tatsächlich vermieden. Aber die Kollateralschäden dieser Politik treten immer offensichtlicher zutage und wirken zunehmend toxisch. Weil der unübersehbaren Geldmenge längst kein vergleichbares Angebot an Gütern und Dienstleistungen mehr gegenübersteht, steigen die Preise vor allem jener Sachwerte, die man für wert- und inflationssicher hält: Kunst, Oldtimer, Gold – und allen voran Immobilien und Unternehmen. Und weil Kredite zum Erwerb dieser Sachwerte praktisch nichts kosten, werden Vermögende fast risikolos und oft sogar ohne eigenes Zutun immer reicher, während das Geldvermögen der breiten Masse durch Negativzins und Inflation an Wert verliert.

In dieser Entwicklung steckt revolutionäres Potenzial. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen noch lange tatenlos zuschauen, wenn sie nicht nur die schlimmen Konsequenzen dieser Entwicklung erkennen (ich nenne hier nur Gentrifizierung und gesellschaftliche Spaltung), sondern auch verstehen, warum das passiert und wem sie das zu verdanken haben.

Eine der vordringlichen Aufgaben der neuen Bundesregierung muss es deshalb sein, ein schlüssiges Konzept dafür zu entwickeln, wie man nicht nur einen kurzfristigen Zusammenbruch der Finanzmärkte, sondern auch die ungewollten und unsozialen Folgen einer hemmungslosen Geldpolitik verhindert. Hier haben wir keine Zeit zu verlieren.


6. Es wird höchste Zeit für eine große Bildungsoffensive

Deutschlands Wohlstand beruht – ich füge ein: zum Glück – nicht auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen, sondern auf der Leistungsfähigkeit seiner Menschen. Nur weil Deutschland lange Zeit über ein international anerkanntes und führendes Bildungssystem verfügte, konnte das Land zum Exportweltmeister aufsteigen und mehr Geld ins Land holen als herausfloss.

Inzwischen ist Deutschlands Bildung rückständig geworden. Es fehlt an Geld und an Ideen, die Pisa-Ergebnisse sind ernüchternd, der Zustand unserer Schulen ist teilweise beschämend, die Ausbildung unserer Lehrer rückständig und am neuen Bedarf vorbei.

Deutschland braucht dringend eine umfassende und große Bildungsreform. Und es braucht sie nicht im kleinstaatlich-föderalen, sondern im nationalen Rahmen. Unsere Schulen müssen die Kathedralen unserer Städte und Gemeinden werden, unsere Hochschulen der Stolz des ganzen Landes. Unser Bildungssystem muss elitär und egalitär zugleich sein und es muss wirkliche Chancengleichheit gewährleisten. Ich weiß, das ist eine Herkulesaufgabe. Es braucht nicht weniger als einen neuen Stein, einen Hardenberg und einen Humboldt. Aber wir können es uns einfach nicht leisten, vor dieser Aufgabe zu versagen oder uns hinter den Unzulänglichkeiten des Föderalismus zu verstecken. Der Bund muss in die Führung gehen. Und die neue Bundesregierung deutlich sichtbare Zeichen setzen. Wir sind es den Menschen in unserem Lande schuldig. Deutschland braucht mehr und Deutschland kann mehr.

 

7. Gelungene Integration statt misslungener Migration

Migration ist eine Tatsache. Der Mensch ist ein migrierendes Wesen, er flieht vor Katastrophen, Krieg, Unterdrückung und Armut. Und er wird es weiter tun. Und Deutschland ist (noch) ein begehrtes Ziel. Wir würden ja auch nach Deutschland wollen, wenn wir unsere Familien in den Krisen- und Elendsgebieten dieser Erde ernähren und großziehen sollten. Jede Politik, die das leugnet oder angibt, man könne die eigenen Grenzen dichtmachen, ist entweder naiv und geschichtsvergessen oder unmenschlich. Deutschland und Europa brauchen eine klare, ehrliche und berechenbare Migrationspolitik, die mehr ist als ein schlichter humanitärer Reflex. Und eine, die sich mit einer ebenso klaren, ehrlichen und berechenbaren Integrationspolitik zu einem sinnvollen Ganzen verbindet.

Menschen, die nach Deutschland wollen, müssen wissen, unter welchen Voraussetzungen sie zu uns kommen dürfen, was sie hier erwartet und was wir von ihnen erwarten. Sie müssen wissen, was mit ihnen geschieht, wenn sie ohne Berechtigung zu uns kommen oder sich nicht integrieren wollen. Und die Menschen, die bereits hier leben, müssen wissen, welche Opfer sie für Migration und Integration bringen müssen und welchen Nutzen sie davon haben.

Gelungene Migration und Integration sind eine große Chance für die Zukunft unseres Landes und der Menschheit überhaupt. Das Beispiel der BioNTech-Gründer Uğur Şahin und Özlem Türeci steht da nur pars pro toto. Aber machen wir uns nichts vor: Misslungene Migration und Integration sind eine große Gefahr – nicht nur für die betroffenen Menschen, sondern auch für den sozialen Frieden im Land.

Die letzte Bundesregierung hat auf diesem Gebiet kläglich versagt. Ich erwarte nichts weniger, als dass die neue Bundesregierung diese Versäumnisse aufholt und schnellstmöglich ein umfassendes, klares und schlüssiges Migrations- und Integrationskonzept vorlegt.


8. Demokratie und Rechtsstaat schützen – überall und gegenüber jedem

Demokratie und Rechtsstaat gehören zu den größten zivilisatorischen Leistungen der Menschheit. Erstere befreit die Masse aus der Knechtschaft durch die Mächtigen, letztere sichert die friedliche Konfliktlösung und schützt die Menschen gegen Übergriffe Dritter – egal, ob staatlichen oder privaten Ursprungs. In ihrem Zusammenspiel sind sie in der Lage, allen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen. So besagt es die große Erzählung des Westens.

Deutschland hat sich dieser Erzählung erst spät, dann aber überzeugt, entschlossen und mit großem gesellschaftlichem Rückhalt angeschlossen. Die Geschichte der deutschen Nachkriegsdemokratie ist eine Erfolgsgeschichte und hat mit der Niederringung des RAF-Terrorismus und der gelungenen Integration des vormals unter kommunistischer Zwangsherrschaft stehenden Landesteils auch erste Bewährungsproben insgesamt gut bestanden.

Zuletzt aber hat das schöne Bild gehörige Kratzer bekommen. Immer mehr Menschen äußern vernehmbar Zweifel, ob die Demokratie tatsächlich die bestmögliche Staatsform ist und das mit ihr verbundene Wohlstandsversprechen auch in Krisenzeiten wahrmachen kann. Die Lust am Autoritären, am Nationalen und Völkischen kehrt zurück, nicht nur hierzulande. Die Zunahme rechter Gewalt, Rechtsradikalismus in Teilen unserer Polizei und Höcke-AfD sind sinnfälliger Ausdruck dieser Tendenzen. Am anderen Ende gibt es Wutbürger, Querdenker und Verschwörungstheoretiker, die selbst der demokratisch legitimierten Staatsgewalt misstrauen und Deutschland auf dem Weg in die Diktatur sehen. Dazu mafiöse Clans, Reichsbürger und Parallelgesellschaften, in denen das staatliche Gewaltmonopol schon lange nicht mehr anerkannt wird. Es reicht Ihnen noch nicht? Dann denken Sie nur an das Internet, wo Hetze und Fake-News längst Angst machende und staatszersetzende Ausmaße angenommen haben, ohne dass der Staat wirksam zum Schutz seiner Bürger und Institutionen eingreifen würde. Aus all dem ist längst eine gefährliche Melange entstanden. Wenn der Staat seine Bürger nicht mehr wirksam schützen kann, schwindet das Vertrauen in seine Handlungsfähigkeit und Legitimation. Dann gedeihen Angst und Anarchie und am Ende der Ruf nach der Autorität. Wir dürfen nie vergessen: Demokratie und Rechtsstaat gibt es nur, solange wir das wollen. Sie können sich nicht selber schützen. Sie brauchen den Schutzwillen der Gesellschaft und die Schutzfähigkeit der in ihrem Auftrag Regierenden.

Liebe Politiker, wacht auf! Es wird höchste Zeit für eine umfassende Initiative zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Leistungsfähigkeit der Demokratie und die Unantastbarkeit des staatlichen Gewaltmonopols. Ich wünsche mir, dass die neue Bundesregierung unverzüglich umfassende Maßnahmen ergreift, um unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat umfassend und wirksam zu schützen. Auf allen Ebenen und gegenüber jedem Angreifer. Orientieren wir uns am Diktum von Willy Brandt: „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit.“


9. Ein begeisterndes Leitbild schaffen

Erfolg und Zukunftsfähigkeit einer Gemeinschaft hängen von der Kraft der gemeinsamen Leitidee ab. Je stärker die Idee der Gemeinschaft ist, desto mehr sind die Mitglieder der Gemeinschaft bereit, ihre individuellen Interessen zugunsten des Gemeinwohls zurückzustellen. Egal, ob es sich um eine Unternehmerfamilie, einen Fußballclub oder eine staatliche Gemeinschaft handelt: Starke Gemeinschaften haben immer auch starke Leitbilder und ein kraftvolles Selbstverständnis.

Deutschland hat sich mit der Definition einer solchen „Leitkultur“ lange Zeit extrem schwergetan. Allzu schwer lastete das, was im Namen einer verbrecherischen Leitkultur von Deutschen über die Welt gebracht wurde, auf den Schultern der jungen Demokratie. Inzwischen aber ist das Land fest verankert in der Wertegemeinschaft westlicher Demokratien. Wer jetzt noch zuwartet, ein klares Leitbild für unser Land zu formulieren, schadet dem Land. Das Fehlen eines Orientierungsrahmens nach innen und außen ist ein Attraktivitätsnachteil im friedlichen Wettstreit der Nationen.

Die neue Bundesregierung muss daher kurzfristig einen Prozess in Gang setzen, der deutlich formuliert, wofür Deutschland steht und warum es sich lohnt, dabei mitzumachen, welche Werte und Haltungen uns „heilig“ sind und welche Ziele das Land in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erreichen will.

 

10. Pro Europa – ohne Wenn und Aber

Deutschlands Zukunft liegt in einem vereinten Europa. Allein kann das Land seine legitimen Interessen gegen die weltpolitischen Schwergewichte, allen voran USA, China und Russland, nicht wirksam zur Geltung bringen. Europa ist der richtige Rahmen dafür. Europa hat eine gemeinsame kulturelle Erfahrung, gleiche Werte und – vielleicht das Wichtigste – es hat aus einer leidvollen Erfahrung nach 1945 endlich die richtigen Schlüsse gezogen und über Jahrzehnte eine beispiellose Erfolgsgeschichte geschrieben.

Zugleich kann niemand leugnen, dass dieses Europa gegenwärtig eine schwere Krise durchmacht. Statt einer kraftvollen Vorwärtsstrategie in Richtung auf immer mehr Integration und Gemeinsamkeit beobachten wir allerorts Stillstand, Verdruss und Auflösungstendenzen.

Wenn Deutschland eine großartige Zukunft haben soll, muss diese Tendenz gebrochen und umgekehrt werden. Wer Europa aufgibt und nicht vollendet, versündigt sich an der Zukunft der Menschen unseres Landes. Zu den wichtigsten Prioritäten der neuen Regierung muss es gehören, den europäischen Einigungsprozess kraftvoll voranzutreiben und gemeinsam mit Gleichgesinnten zu vollenden. Die Vereinigten Staaten von Europa sind keine Utopie, sie sind eine Notwendigkeit. Wer dabei nicht mitmachen will, darf außen vorbleiben. Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ist allemal besser als ein Europa des Stillstands.

Wie wichtig die Vereinigten Staaten von Europa für Deutschland sind, zeigt sich immer dann, wenn es darum geht, unser Selbstverständnis, unsere Werte und unsere Ziele gegenüber wichtigen Wettbewerbern und Partnern auf der internationalen Bühne zu vertreten. Was Deutschland da derzeit abliefert, ist jämmerlich. Egal, ob es sich um ein wildgewordenes Amerika unter Donald Trump, um das mächtige, aber autokratische China, um das aggressiv-expansive Putin-Russland oder die Quasi-Diktatur eines Recep Tayyip Erdoğan handelt. Sobald unsere wirtschaftlichen Interessen betroffen sind, knicken wir ein. Bedenken anmelden? Vielleicht. Konsequenzen ziehen? Auf keinen Fall.

Das beschädigt nicht nur Selbstbewusstsein und Glaubwürdigkeit. Ein solcher Partner wird von seinem Gegenüber auch nicht ernst genommen und es ist nur eine Frage der Zeit, wann unsere Wirtschaft darunter leiden wird. Wer sich nicht wehren kann, wird früher oder später besiegt. Das ist in der Ökonomie nicht anders als in der Politik. ­
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Liebe Leser, der vorstehende Katalog ist zuvörderst als Aufgabenbeschreibung für die neue Bundesregierung gedacht. Er enthält zehn Aufgabenfelder, die ich im Interesse unseres Landes für besonders wichtig halte. Wenn Sie meine Überlegungen teilen, können Sie ihn gerne auch als Prüfkatalog für Ihre anstehende Wahlentscheidung nutzen und fragen, welches politische Angebot diesen Anforderungen am besten gerecht wird.

Gestatten Sie mir zum Schluss noch ein persönliches Wort. Ich bin mir sicher, dass die tatkräftige Realisierung dieses „Masterplans für Deutschland“ unser Land in vielfältiger Hinsicht aus seiner Lethargie erwecken und besser machen würde. Ich weiß, dass die Menschen in unserem Land mehr können, mehr brauchen und mehr verdienen. Aber ich habe ernste Zweifel, ob diejenigen, die sich jetzt darum bewerben, das staatsmännische bzw. -frauliche Format haben, dieses Versprechen einzulösen. Wir bräuchten einen Adenauer, einen Erhard, einen Brandt und einen Schmidt – am besten alle zusammen und noch einen Schuss Strauß dazu. Stattdessen haben wir nur einen Laschet, eine Baerbock, einen Scholz und einen Lindner. Das ist es, was mir wirklich Sorge macht.

Mit dieser Anregung bin ich für heute mit den besten Grüßen

Ihr Peter May