Wichtige Entscheidungen treffen – eine Herausforderung

Für die Festschrift zu Peter Mays 60. Geburtstag „Familienunternehmen gestern - heute - morgen“ hat Karin May die Prozesse erklärt, die zur Entscheidungsfindung hilfreich sein können.

Karin May

 

Bei einer Entscheidung in einem uns persönlich betreffenden Thema fehlt uns oft die Distanz. Wir sind hin- und hergerissen zwischen verschiedenen eigenen Interessen und Bedürfnissen und denen anderer, denen wir gerecht werden wollen. Erschwerend kommt hinzu, dass Entscheidungsprozesse oft sehr komplex verlaufen. Um ein für uns tragfähiges Ergebnis zu erzielen, müssen wir in der Lage sein, viele unterschiedliche Aspekte abzuwägen und dabei nicht den Überblick zu verlieren. Und nicht zuletzt empfinden wir die Klarheit, die die Umsetzung einer Entscheidung erfordert, nicht immer als angenehm. Denn: Entscheiden heißt auch Verantwortung übernehmen, für uns selbst, aber oft auch für andere.

 

Kopf- und Bauchentscheidungen

Die Erfahrung zeigt, dass auch Menschen, die es gewohnt sind, in ihrem beruflichen Umfeld Entscheidungen zu treffen, sich bei persönlichen Fragestellungen schwertun. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Nachfolge in einem Familien- unternehmen anzutreten ist auch bei einem fachlich geeigneten und beruflich erfolgreichen Junior/einer Juniorin nicht nur eine Frage der Kompetenz. Sich auf eine Unternehmerfamilie mit ihren Beziehungsmustern einzulassen hat viele – auf den ersten Blick nicht greifbare – emotionale Aspekte. Und solche Entscheidungen treffen wir nicht nur „mit dem Kopf“, sondern auch „mit dem Bauch“.

Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung

Nicht jeder, der eine Entscheidung getroffen hat, empfindet dies als ein Zerschlagen des gordischen Knotens, also als Befreiung. Denn es schwingen in schwierigen Entscheidungen auch immer weitergehende Fragestellungen mit: Wie sage ich es den anderen? Wird meine Entscheidung akzeptiert? Stoße ich mit diesem Schritt vielleicht auf Ablehnung?

Andererseits ist es auf die Dauer für die meisten Menschen belastend, keine Entscheidung zu treffen. Wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen führt zur Lähmung, und der Entscheidungsprozess absorbiert viel Kraft, die an anderer Stelle fehlt.

Daher macht es Sinn, die Blockaden in einem sinnvollen Entscheidungsprozess zu durchbrechen. Möglich ist dies durch eine Reflexion über die eigene Situation sowie einen aktiven und notwendigen Schritt in Richtung Klarheit. Aber es erfordert Mut, sich einem Thema in aller Konsequenz zu stellen und aus der Komfortzone herauszutreten. Dazu gibt es viele Möglichkeiten, vom Rückzug in die Stille über das Gespräch mit guten Freunden oder Kollegen bis hin zu Techniken wie Mindmap und Entscheidungsmatrix. Ein sinnvoll strukturierter Entscheidungsprozess hilft in jedem Fall, die Komplexität eines Themas zu reduzieren und gleichzeitig die einzelnen Alternativen begreifbar zu machen.

 

Der Entscheidungsprozess und das „innere Team“

Einen anderen Blick auf Entscheidungsprozesse bekommt man, wenn man dem Entscheidungsprozess den Ansatz des Kommunikationswissenschaftlers Friedemann Schulz von Thun zum „inneren Team“ zugrunde legt: Die unterschiedlichen Ansichten zu einem Thema lassen sich inneren Anteilen zuordnen. So gibt es etwa einen „mutigen Anteil“, der gerne ein Risiko eingehen möchte, aber auch einen „vorsichtigen“, der aus schlechten Erfahrungen gelernt hat und warnend „den Fingern hebt“. Es gibt vielleicht einen Anteil, der die Freiheit liebt, und einen anderen, der sich einer Verantwortung bewusst ist. Diese Antagonisten tragen unseren inneren Konflikt aus und argumentieren heftig miteinander. Mal hat der eine die Oberhand, mal der andere. Das „Ich“ als derjenige, der das innere Team quasi moderieren soll, verliert den Überblick.

 

Der Entscheidungsprozess als „innere „Mediation“

Diesen gedanklichen Ansatz zugrunde gelegt, lassen sich innere Konflikte nach meiner Erfahrung mit Hilfe der Regeln der klassischen Mediation, quasi in einem Prozess der „inneren Mediation“, moderieren. Der Vorteil des hier dargestellten Ansatzes ist, dass der Prozess von einem neutralen Dritten (einem Coach) begleitet werden kann, der keinerlei Eigeninteressen hat, an den richtigen Stellen fragt, das Tempo steuert, Zeit zum Nachdenken „verordnet“, den Blick auf die Zukunft lenkt und hilft, dass der Entscheidungssuchende (Coachee) einen klareren Blick für sein inneres Team bekommt.

 

Die einzelnen Prozessschritte

1. Standortbestimmung

Interessen und Bedürfnisse

Der erste Schritt in dieser Art von Entscheidungsprozess ist immer die Frage nach den eigenen Interessen und Bedürfnissen. Was ist mir wichtig? Wofür stehe ich? Wann geht mir das Herz auf? Diese Fragen beziehen sich nicht nur auf die zu entscheidende Fragestellung, sondern sind allgemein gefasst. Wenn wir uns dafür Zeit lassen, entsteht ein Bild mit vielen unterschiedlichen Aspekten, die in unserem Leben von Bedeutung sind. Es gibt Interessen, die den „Kopf“ repräsentieren, aber insbesondere auch Bedürfnisse, die aus dem „Bauch“ kommen. Sie alle beeinflussen unseren Entscheidungsprozess und stellen die Leitplanken für eine für uns (!) sinnvolle Entscheidung dar. Es gilt der Erfahrungssatz, dass tragfähige Entscheidungen auf Gefühl und Verstand, also auf „Bauch“ und „Kopf“, beruhen sollten.


Hypothese: Welche Auswirkungen hat meine Entscheidung auf Dritte?

Haben Entscheidungen – was ja nicht selten der Fall ist – Auswirkungen auf Dritte, dann kann es Sinn machen, das Fenster auch für die Bedürfnisse der an- deren zu öffnen. Dies geschieht mit Hilfe der hypothetischen Frage: „Was könnten die Interessen und Bedürfnisse von eventuell betroffenen Dritten sein?“ Diese Hypothese hilft, sich sozusagen auf den Stuhl der anderen zu setzen und auch auf deren Belange einen realistischen Blick zu werfen. Inwieweit diese Belange am Ende im Entscheidungsprozess Berücksichtigung finden, ist eine separate Frage. Hier geht es erst einmal um eine Klärung, welche Interessen und Bedürfnisse unsere eigenen sind und welche von anderen übernommen werden. Ergänzt werden kann dieser Themenkomplex durch die Frage, wann eine Entscheidung aus der Sicht des Coachees für alle Betroffenen als fair, gerecht und ausgewogen angesehen werden kann.


Besonderheiten bei beruflichen Entscheidungen

Bei Entscheidungen, die jemand zu seiner Ausbildung oder seiner beruflichen Ausrichtung treffen muss, hilft oft die Frage nach den Fähigkeiten, Kompetenzen und Stärken des Coachees. Dabei gilt der Grundsatz: „Stärken stärken und nicht auf den Schwächen herumreiten“. Im Anschluss an die Frage nach dem „Was kann ich?“ ermöglicht die Frage „Was kann oder will ich noch lernen?“ einen Blick auf das eigene Potenzial. Die meisten Menschen können sich selbst gut einschätzen oder greifen in dieser Phase auf das Feedback anderer zurück, das ihnen plausibel erscheint.


2. Die Frage nach den Optionen

Der nächste Schritt ist die Frage nach den Optionen, die wir in einem Entscheidungsprozess haben. Es gibt in der Regel mehr Optionen, als wir im ersten Augenblick annehmen. Das zeigt sich, wenn wir diesen Teil der Arbeit als kreativen Prozess begreifen. Und auch das Aufschreiben von zunächst absurd erscheinen- den Optionen hilft, weil es die Perspektiven erweitert. Ein Hinweis noch an dieser Stelle: Eine Option ist immer ein „Weiter wie bisher“, auch wenn die meisten Coachees sich gerade gegen diese Aussage wehren. Erfahrungsgemäß treffen wir dann eine Entscheidung, wenn wir eine Veränderung wollen, weil das „Weiter wie bisher“ belastender ist als der Schritt heraus aus der bisherigen Komfortzone. Dies sollte an dieser Stelle bewusst werden.


3. Die Bewertung der einzelnen Optionen

In einem weiteren Schritt werden alle Optionen bewertet und überprüft. Jetzt, aber auch erst jetzt, werden die Optionen, die offensichtlich nicht umsetzbar erscheinen, gestrichen. Aber sie sind einmal ausgesprochen, und das alleine tut manchmal gut. „Ich könnte auswandern“ – sich diesen Gedanken zuzugestehen kann schon helfen. Die Optionen, die umsetzbar erscheinen, werden anschließend nummeriert und in dieser Reihenfolge bearbeitet.


4. Die eigentliche Entscheidung

Jetzt erst steht eine genaue Betrachtung der einzelnen Optionen an, und zwar zur Reduktion der Komplexität nicht nebeneinander, sondern nacheinander. Wir stellen uns also vor, zunächst den Weg der Option 1 zu wählen. „Was muss ich dann tun, was sollte ich unterlassen, welche Vor- und Nachteile hätte das?“ Die Bewertung findet anhand der vorher erarbeiteten Interessen und Bedürfnisse statt. Auf diese Weise wird jede der genannten Optionen analysiert und mit einem Fazit abgeschlossen.

Der Coachee stellt in dieser Phase des Prozesses oft fest, dass einige zunächst vorstellbare Wege bei näherer Betrachtung gegen seine Grundbedürfnisse verstoßen. Oder dass sein Herz nur bei einem Weg wirklich dabei ist. Dann ist die Entscheidung am Ende nicht schwer. Manchmal lässt sich eine Entscheidung aber nur treffen, wenn wir einen Kompromiss mit uns selbst schließen. Wer einen guten Entscheidungsprozess durchlaufen hat, kennt aber zumindest den Preis, den er für seinen Weg zahlt, auch den inneren.


5. Die Kommunikation der Entscheidung

Oft ist es sinnvoll, sich im Anschluss an den Entscheidungsprozess noch mit der Frage auseinanderzusetzen, wie und wann die getroffene Entscheidung kommuniziert wird, damit eine Idee am Ende auch realisiert wird. Besonders wenn Dritte betroffen sind, macht es Sinn, sich auch für die Kommunikation der Entscheidung ein Konzept zu überlegen, um Kränkungen oder Missverständnisse zu vermeiden. Um ein paar Beispiele zu nennen: Wer sich etwa sicher ist, seinen Arbeitsplatz zu wechseln, sollte vielleicht im ersten Schritt mit seinem Partner und erst dann mit seinem Arbeitgeber darüber sprechen. Oder – dies kommt in der Praxis nicht so selten vor – der auserkorene Nachfolger plant ein moderiertes Gespräch mit der Familie, in dem er mitteilt, dass er sich mit guten Gründen gegen die Übernahme der vorgesehenen Aufgabe entschieden hat. Ein solches Gespräch kann Voraussetzung und Basis für ein weiterhin gutes Verständnis innerhalb der Familie sein.

 

Fazit

Jeder von uns steht regelmäßig vor Entscheidungen, bewussten und unbewussten, wichtigen und weniger wichtigen. Bei wesentlichen Fragestellungen sollten wir uns hinreichend Zeit und Energie für einen strukturierten Prozess nehmen, weil dieser die Chancen einer langfristig tragfähigen Entscheidung erhöht.

 

veröffentlicht in: Familienunternehmen gestern - heute - morgen. Festschrift für Peter May, herausgegeben von Karin Ebel, Karin May, Sabine Rau und Reinhard Zinkann (Hrsg.) | 2018 | Murmann Verlag