Wir müssen über unsere Werte sprechen

In einer dreiteiligen Reihe hat Prof. Dr. Peter May 2020 persönlichen Anmerkungen zum Umgang mit der Corona-Krise veröffentlicht. Teil 3: Wir müssen über unsere Werte sprechen

Peter May

 

In den letzten Wochen ist viel von Werten die Rede. Davon, welche Werte uns helfen, gut durch die Krise zu kommen, aber auch davon, welche Werte unser Handeln in der Zeit nach Corona bestimmen sollen. Das Meinungsbild ist uneinheitlich. Manche konstatieren erfreut eine Renaissance alter Werte, andere äußern den Verdacht, unsere aktuellen Werte könnten mitverantwortlich sein für die Probleme, in die wir uns hineinmanövriert haben und fordern einen Wertewandel. Eine dritte Gruppe hält die Diskussion für unnötig und überzogen und vertraut darauf, dass die Wertediskussion nach dem Ende der Krise ebenso schnell abflauen werde, wie sie aufgetaucht sei. Lassen Sie uns also über Werte sprechen.

 

Von der Macht der Werte

Werte sind das, was uns wichtig ist, was uns wert-voll erscheint und wonach wir unser Leben ausrichten wollen, um den Traum aller Menschen zu verwirklichen: ein gutes, ein gelingendes Leben zu leben. Unsere Werte sind weder statisch noch vorgegeben. Sie sind das Produkt unserer Sozialisierung und unserer Auseinandersetzung mit dieser. Sie werden durch unser Elternhaus geprägt, die Schule, unsere Peergroups und die Gesellschaft, in der wir leben. Menschen, die in einem Beamtenhaushalt aufwachsen, werden mit anderen Werten groß als solche aus einem Unternehmerhaushalt, eine Klosterschule vermittelt andere Werte als ein englisches Elite-Internat und eine Gesellschaft, die einem marktkapitalistischen Ideal folgt, prägt andere Wertvorstellungen als eine mit sozialdemokratischem oder sozialistischen Hintergrund. Welchen Werten wir folgen, hängt also von zwei grundlegenden Fragen ab. Welche Vorstellungen haben wir von einem guten Leben? Und welche Prägungen haben zu dieser Vorstellung und ihrer Konkretisierung geführt? Das Ergebnis bestimmt in der Folge unser Denken, unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit, unsere Urteile und unser Handeln. Und wenn wir unser Denken und Handeln verändern wollen, müssen wir unsere Vorstellung vom guten Leben korrigieren und die diese Vorstellung begründenden Narrative durch neue ersetzen. So einfach ist das und zugleich so schwierig

 

Unsere Idee vom guten Leben

Unsere westliche Vorstellung vom guten Leben ist durch die Ideale der Aufklärung und des Kapitalismus geprägt. Ein selbstbestimmtes Leben in Wohlstand lautet das Ideal dieses Glaubenssystems, dem wir uns vor etwa 250 Jahren verschrieben haben. Menschenwürde, Menschenrechte und Befreiung von Wissenschaft und Technik auf der einen, Eigentum, Markt und in Kapital transformiertes Geld auf der anderen Seite sind ihre wichtigsten Ingredienzien, (technologischer) Fortschritt, (quantitatives) Wachstum und (persönlicher) Erfolg ihre drei zentralen Werte.

Ihre beispiellose Erfolgsgeschichte ist ebenso umfangreich belegt wie die theoretischen Grundlagen ihrer Ideengeschichte. Kritik hat es zu allen Zeiten gegeben, selbst einen praktischen Gegenentwurf von historischer Dimension, sie wurde bislang stets von der nicht enden wollenden Erfolgsgeschichte und der Anpassungsfähigkeit des Systems zum Verstummen gebracht. Inzwischen wachsen neue Zweifel. Immer stärker beschleicht uns das Gefühl, dass der eingeschlagene Weg womöglich nicht in ein aufgeklärt-kapitalistisches Paradies, sondern geradewegs in den Untergang führen könnte. Und immer mehr Menschen fragen sich: Ist es am Ende vielleicht gerade der Erfolg des Systems, der uns zum Verhängnis wird? [1]

Wenn diese Sorgen begründet sind, steht der Menschheit eine ungewisse, eine schwierige Zukunft bevor. Aber auch ein – zumindest theoretisch – einfacher Ausweg: Wenn wir verhindern wollen, dass wir uns zu Tode siegen, unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstören und uns in einem Kampf der „Ichlinge“, der Armen gegen die Reichen, gegenseitig umbringen, dann müssen wir unsere Vorstellung vom guten Leben weiterentwickeln und das Narrativ der westlichen Fortschrittserzählung so an eine veränderte Wirklichkeit anpassen, dass auch zukünftig ein lebenswertes Leben auf unserem wunderschönen, aber endlichen Planeten möglich bleibt. Wie das aussehen könnte, möchte ich im Folgenden kurz skizzieren.

 

Menschenwürde für alle

Die Idee, dass gutes Leben selbstbestimmtes Leben ist, ist noch relativ jung. Die Erkenntnis, dass der Mensch nicht primär das Objekt göttlicher Vorsehung oder weltlicher Macht, sondern selbst ein mit eigener und unveräußerlicher Würde ausgestattetes Subjekt ist, verdanken wir den Denkern der Aufklärung. Erst mit ihnen traten menschliche Selbstbestimmung und Würde in die Geschichte ein.

Und mit ihnen ein äußerst radikaler und erfolgreicher Systemwechsel. Die Idee vom selbstbestimmten Menschen hat die Geschichte nachhaltig verändert. Sie hat Pfaffen- und Fürstenherrschaft durch die Herrschaft des Volkes ersetzt und Willkürherrschaft durch die Herrschaft des Rechts. Sie hat den einzelnen Menschen zum Träger von Freiheitsrechten und Gleichbehandlungsansprüchen gemacht und das unwiderstehliche Fanal „Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit“ in die Welt gesetzt. Und sie hat die Kreativität des Menschen entfesselt und in nur 250 Jahren wissenschaftliche und technologische Fortschritte ermöglicht, wie sie die Welt in Millionen Jahren zuvor nicht gesehen hatte.

Und doch ist die Idee der Aufklärung bis heute seltsam unvollendet geblieben. Denn von einem menschenwürdigen Leben für alle sind wir noch weit entfernt. Schon die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, in der die Idee von den unveräußerlichen Menschenrechten zum ersten Mal politisch relevante Willenserklärung wurde, litt an dem Makel, dass ihre Verfasser entweder selbst Sklavenhalter oder zumindest bereit waren, die real existierende Sklaverei in den neugeschaffenen Vereinigten Staaten von Amerika ungeachtet ihres Bekenntnisses zur Menschenwürde zumindest vorerst weiterhin zu tolerieren. Bis zum heutigen Tage ist unsere Menschenwürde viel zu oft nur eine Menschenwürde für die Menschen auf der Gewinnerseite des Lebens. Den anderen haben wir sie nur allzu gerne vorenthalten und tun es immer noch. Ausbeutung und Diskriminierung von Menschen durch Menschen waren und sind an der Tagesordnung – gleichgültig, ob man sie mit Geschlecht, Hautfarbe, Rasse, Religion, Nation, politischer Meinung oder was auch immer begründet hat.

Wenn wir wollen, dass die Menschenwürde zur „strahlenden Idee der Aufklärung“ wird, wie der Schriftsteller Ferdinand von Schirach es so schön formuliert hat, dann muss sie endlich allen gehören. Dann müssen wir sicherstellen, dass alle Menschen frei von Zwang und Ausbeutung leben können, frei von Krieg und frei von Diskriminierung. Dann müssen wir unser Leben und Wirtschaften endlich so gestalten, dass alle Menschen teilhaben können am Wohlstand der Menschheit, und dass jeder eine faire Chance hat auf ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben. Dann endlich dürfen wir zufrieden auf das schauen, was wir die Errungenschaften der Aufklärung nennen. Und müssten uns nicht länger wundern, warum unsere Menschenwürde außerhalb des westlichen Machtbereichs nur eine begrenzte Anziehungskraft entfaltet. Dann würde nicht nur von der Idee der Menschenwürde, sondern auch von ihrer Realisierung eine Kraft ausgehen, der man sich nur schwer entziehen könnte. Wer oder was hält uns eigentlich davon ab?

 

Wer Rechte hat, der hat auch Pflichten

Unsere aktuelle Erzählung von Menschenwürde und Selbstbestimmung leidet noch an einem weiteren Makel. Allzu lange haben wir unser Augenmerk nahezu ausschließlich auf die aus der Menschenwürde ableitbaren Rechte gelegt und dabei völlig übersehen, dass unser Zusammenleben auf Dauer nur dann funktioniert, wenn Rechte und Pflichten in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen.

Unsere Verfassungen sind angefüllt mit wohlklingenden und stark formulierten Grundrechten, Grundpflichten sucht man hingegen vergebens. Historisch mag das verständlich sein – am Beginn der Aufklärung stand die Erstreitung bürgerlicher Freiheiten gegenüber einem starken Staat. Aber das damit verbundene Anspruchsdenken hat sich längst verselbstständigt. Aus Abwehrrechten gegen den Staat ist ein vermeintlicher Anspruch auf individuelles Glück und Selbstoptimierung geworden, der sich gegen alles und jedes richtet, was seiner Verwirklichung im Wege steht. Die fehlende Reflektion über das Gedankengut der Aufklärung hat uns zu einer Herde von Ichlingen werden lassen und es wird höchste Zeit, dass wir die Erzählung komplettieren und anerkennen, dass wir nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten haben. Und dass wir nicht nur immer mehr „Ich“, sondern vor allem auch mehr „Wir“ brauchen. 10 Milliarden Ichlinge westlichen Zuschnitts würde die Menschheit nicht verkraften.

Die philosophisch-theoretischen Grundlagen für einen solchen Wandel sind längst vorhanden. Es sind die Prinzipien der Gegenseitigkeit und der Solidarität, ohne die keine Gemeinschaft dauerhaft reibungsfrei funktionieren kann. Dabei dominiert das Prinzip der Gegenseitigkeit die menschliche Interaktion und manifestiert sich in einfachen Sätzen wie: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu“, oder: „Behandle andere stets so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ Solidarität hingegen zielt auf unser Verhältnis zur Gemeinschaft als solche, darauf, was wir uns von der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft erwarten und zu was wir uns im Gegenzug verpflichten. Das ist ein sensibles Thema, denn schon der gesunde Menschenverstand verrät uns, dass eine Gemeinschaft, in der jeder mehr nehmen will, als er zu geben bereit ist, nicht von Dauer sein kann. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy hat schon zu Beginn der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts den verzweifelten Ausspruch getan: „Frage nicht, was dein Land für dich tut, sondern was du für dein Land tun kannst.“ Der Satz wird zwar oft zitiert, viel bewirkt hat er nicht. In den vergangenen 60 Jahren hat unsere Opferbereitschaft in dem Maße weiter abgenommen, wie unser Anspruchsdenken zugenommen hat. Wir müssen unser Verhältnis zur Solidarität und ihre Inhalte neu bestimmen. Denn ohne die Bereitschaft solidarisch füreinander einzustehen, kann eine Gemeinschaft nicht überleben.

 

Wir müssen unsere Vorstellung von Wohlstand neu definieren

Allerdings wird es nicht genügen, den von der Aufklärung gestalteten Teil unserer Erzählung zu renovieren. Auch der kapitalistische Anteil muss weiterentwickelt werden, wenn wir überleben wollen. Zu unserer Vorstellung vom guten Leben gehört ein Leben in Wohlstand. Unsere augenblickliche Erzählung misst diesen Wohlstand in Geldwerten. Auf Ebene der Volkswirtschaften ist es das BIP, das Bruttoinlandsprodukt, auf individueller Ebene sind es Einkommen und Vermögen. Wie auch immer, die Formel ist simpel: Mehr Wohlstand = mehr Geld.

Dabei ist der Zusammenhang zwischen Geld und gutem Leben durchaus ein fragiler. Solange Geld ein knappes Gut ist, bedeutet mehr Geld zweifellos ein besseres Leben. Was aber, wenn alle vernünftigen Wünsche erfüllt sind und wir genug Geld haben? Bedeutet mehr Geld dann immer noch mehr Glück, mehr Zufriedenheit und mehr Sinn? Religionstheoretiker und Philosophen haben den Zusammenhang zwischen Geld und Glück schon immer kritisch betrachtet. Die noch junge Glücksforschung hat den abnehmenden Grenznutzen des Geldes für das Glück inzwischen auch wissenschaftlich belegt. Kaum jemand antwortet auf dem Sterbebett danach befragt, was er in seinem Leben am meisten bereue: „Ach, hätte ich doch noch mehr gearbeitet, mehr Geld verdient und mehr Vermögen angehäuft.“ Es sind andere Dinge, die unser Leben gelingen lassen und uns glücklich machen. Selbstbestimmung, gelingende Beziehungen und Wirksamkeit, in dem was man tut, machen den wahren Wohlstand der Menschen aus.

In unseren aktuellen Wohlstandsmessungen sucht man sie bislang vergebens. Weder im BIP noch in den Reichenlisten kommen sie vor. Der amerikanische Politiker Robert Kennedy, Bruder des ermordeten US-Präsidenten, hat das schon 1968 witzig-scharf kritisiert: „Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht.“ Dabei sollte ein tauglicher Wohlstandsindikator genau das tun. Wer Erfolg nur in Geld misst, wird eine von Geld besessene Gesellschaft hervorbringen, wer Erfolg auch an anderen Kriterien bemisst, wird auch eine andere Gesellschaft erzeugen. Es ist die Kraft unserer Narrative, die unser Leben gestaltet. Es wird höchste Zeit, dass wir unsere Vorstellungen von Wohlstand korrigieren und um all die Aspekte erweitern, die unser Leben lebenswert machen.

Der Wechsel von rein quantitativen zu qualitativen Messgrößen hätte noch einen weiteren Vorteil. Wenn wir aufhören, nur quantitatives Wachstum als Fortschritt anzusehen und auch qualitative Verbesserungen messen und würdigen, machen wir den Weg frei für einen Wandel unserer Fortschrittslogik vom „Immer mehr“ zum „Immer besser“. Auf einem Planeten, dessen Raum und Ressourcen endlich sind, ist das für das Überleben unserer Spezies unverzichtbar. Der große Physiker Stephen Hawking hat die Menschen in einem Interview mit der BBC bereits 2017 ermahnt: „Die Menschheit ist verloren, wenn wir nicht die Erde verlassen. … Die Ausbreitung im Weltraum ist das Einzige, was uns noch retten kann.“ Soll das wirklich unsere einzige Überlebenschance sein? Soll es wirklich nicht möglich sein, unseren quantitativen Expansionsdrang durch einen qualitativen Verbesserungsdrang zu ersetzen?

 

Von der Ausbeutungslogik zum Kreislaufwirtschaft

Im Mittelpunkt der kapitalistischen Erzählung steht das Kapital. Es ist der Motor, der die kapitalistische Maschine antreibt, immer neue Projekte möglich macht und damit für das vom System geforderte Wachstum sorgt. Der entscheidende Faktor im Wettbewerb um Kapital ist die Rendite. Je besser sich das eingesetzte Kapital verzinst, desto attraktiver ist die Kapitalanlage für die Investoren. Und weil die Rendite nicht nur von der Höhe des eingesetzten Kapitals, sondern auch von der Höhe des damit erzielten Gewinns abhängt, wohnt der kapitalistischen Erzählung – gewollt oder ungewollt – eine Ausbeutungslogik inne. Gewinn ist nämlich nur das, was dem Unternehmer nach Abzug der Kosten von den am Markt erzielten Erlösen verbleibt. Und weil das so ist, hat der kapitalistische Unternehmer ein natürliches Interesse daran, seine Kosten, insbesondere die großen Kostenblöcke Personal und Material, so gering wie möglich zu halten. In unserer derzeitigen Logik würde ein anderes Verhalten hart bestraft.

Deshalb haben kapitalistische Unternehmer Menschen als Sklaven gehalten, Männer und Frauen und sogar Kinder unter unwürdigen Bedingungen zu Minimallöhnen arbeiten lassen - und tun dies zum Teil heute noch. Aus einer humanen Perspektive sind dies Verstöße gegen die Menschenwürde, nicht selten sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Durch die Brille unseres kapitalistischen Glaubens betrachtet, sind es hingegen natürliche, weil gebotene Verhaltensweisen. Ich finde, das sollte uns zu denken geben. Mit einem System, dem die Ausbeutung anderer Menschen natürlich erscheint, kann etwas nicht stimmen.

Gleiches gilt für unser Verhältnis zur Natur. Der Mensch ist ein Teil der Natur und es liegt in unserem ureigensten Interesse, diese Natur in ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt zu erhalten und ihr sensibles Gleichgewicht nicht zu beschädigen. Bäume, die wir abholzen, wieder nach zu pflanzen, die Verschmutzung von Luft und Wasser zu verhindern, zugefügte Verschmutzungen zu korrigieren und von all den Ressourcen, die wir verbrauchen, mindestens so viel wieder hinzuzufügen, wie nötig ist, um das ursprüngliche Gleichgewicht wieder herzustellen: Aus einer humanen Perspektive wäre das vernünftig, aus kapitalistischer Sicht ist es Selbstmord. Der kapitalistische Unternehmer muss alles daransetzen, zur Befriedigung der von ihm erzeugten Konsumentenwünsche möglichst viel Natur verbrauchen zu dürfen und dafür so wenig Geld wie möglich zu bezahlen. Nur so kann er seinen Gewinn steigern und für die bestmögliche Verzinsung des eingesetzten Kapitals sorgen. Wer anders handelt, scheidet aus dem Wettbewerb aus. Er rettet nicht die Um-Welt, sondern zerstört nur sein Unternehmen, während die anderen fröhlich weitermachen in einem Spiel, an dessen Ende der Exitus aller steht. Denn die Zeiten, in denen unser kapitalistischer Expansionsdrang folgenlos blieb, sind längst vorbei. Seit Jahrzehnten schon verbrauchen wir mehr Natur als zur Verfügung steht. Und unsere Ressourcen sind endlich. Das ist nichts weniger als eine neue Realität.

Wie gut und wie schnell wir in der Lage sind, uns auf diese neue Realität einzustellen, wird darüber entscheiden, wie unsere Zukunft auf diesem Planeten aussehen wird. Denn nicht die Erschöpfung der Ressourcen, sondern das Glaubenssystem, das diese Erschöpfung hervorgebracht hat, ist das Problem. Der Anthropologe Joseph Tainter hat dies schon 1988 unmissverständlich formuliert: „Wenn eine Gesellschaft mit der Erschöpfung ihrer Ressourcen nicht umgehen kann, drehen sich die wirklich interessanten Fragen um die Gesellschaft und nicht um die Ressource. Welche strukturellen, politischen, ideologischen oder wirtschaftlichen Faktoren in der Gesellschaft verhinderten eine angemessene Reaktion?“ In unserem Fall ist die Antwort klar. Solange wir Gewinn und Kapitalverzinsung über die Würde des Menschen und den Erhalt der Umwelt stellen, solange wird es keine Heilung und keinen Austritt aus unserem Selbstzerstörungsprogramm geben.

Was wir jetzt brauchen, ist eine notwendige Weiterentwicklung unseres allzu eindimensionalen Glaubenssystems. Wie organisieren wir eine künftige kapitalistische Wirtschaft so, dass sie nicht nur zu einem Wachstum von BIP und Shareholder Value, sondern vor allem zum Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen und zur Gestaltung einer lebenswerten und sich selbst erneuernden Umwelt für alle beiträgt? Welche Begrenzungen braucht es und welche Anreize müssen geschaffen werden, um uns von einer Ausbeutungs- zu einer Kreislaufwirtschaft zu wandeln? Möglich wäre es. Wir müssen es nur wollen.

 

Individualwohl und Gemeinwohl oder: Wohlstand für alle

Noch an einer anderen Stelle bedarf unsere kapitalistische Erzählung der Weiterentwicklung. Ebenso wie wir die Erzählung der Aufklärung aus ihrer Fixation auf das „Ich“ lösen und zu mehr „Wir“ entwickeln müssen, sollten wir unseren nahezu ausschließlich am Wohl des einzelnen orientierten Kapitalismus mehr in Richtung Gemeinwohlorientierung treiben.

Unsere Verfassung hat das längst getan. In Artikel 14 des Grundgesetzes heißt es nicht nur: „Eigentum und Erbrecht werden gewährleistet“, sondern auch: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch muss zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“ Das in Deutschland geschützte Eigentum ist gemeinwohlorientiertes Eigentum. Alle anderen Formen des Umgangs mit Eigentum genießen den Schutz unserer Verfassung nicht.

Leider ist dieses gemeinwohlorientierte Eigentumsverständnis bis heute seltsam konturlos geblieben. Nur wenige Grundrechte hat das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen weniger eindeutig ausgestaltet als das kapitalistische Ur-Grundrecht. Was ein dem Wohl der Allgemeinheit verpflichteter Eigentumsgebrauch ist, weiß bis heute niemand genau. Welche Konsequenzen ein Eigentumsgebrauch hat, der keinen Gemeinwohlnutzen hervorbringt, auch nicht.

Immerhin hat Deutschland mit dem „German Mittelstand“ in den Wiederaufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine Erscheinungsform von Kapitalismus hervorgebracht, die der Idee der Verfassung zumindest nahekommt. Dieser „Familienkapitalismus“ ist in seinen gelungenen Beispielen sowohl ökonomisch erfolgreich als auch sozial verantwortlich und gesellschaftlich verankert. Er wächst im Durchschnitt etwas langsamer, ist dafür aber widerstandsfähiger und nachhaltiger. Er erzeugt weniger Shareholder Value, dafür aber mehr Zufriedenheit bei den übrigen Stakeholdern. Gleichwohl ist ihm der Durchbruch auf internationaler Bühne bislang versagt geblieben. Bei internationalen Investoren findet die auf Maximalrendite ausgerichtete angelsächsische Variante mehr Zuspruch.

Dennoch sollten wir den Familienkapitalismus zum Ausgangspunkt unserer Diskussion über den Kapitalismus der Zukunft machen. Ein Kapitalismus, der die einen immer reicher und die anderen – zumindest relativ – ärmer macht, wird nicht funktionieren, vor allem dann nicht, wenn dieser Reichtum nicht selbst erarbeitet, sondern nur ererbt ist. Zu viel Spreizung verträgt eine Gesellschaft auf Dauer nicht. Ein gutes Wirtschaftssystem schafft „Wohlstand für alle“, wie die von Ludwig Erhard verfasste Bibel der sozialen Marktwirtschaft verspricht. Es setzt ausreichend Anreize für diejenigen, die durch Arbeit und Kapitaleinsatz Mehrwert schaffen und sorgt zugleich dafür, dass ein ausreichender Teil dieses Mehrwertes allen zugutekommt. Unterschiede in der Wohlstandverteilung dürfen und müssen sein, um die für den Fortschritt notwendigen Anstrengungen ausreichend zu incentivieren. Aber wenn wir den Neid - neben der Gier ein zweiter negativer, aber natürlicher Charakterzug der Menschen – in beherrschbaren Grenzen halten wollen, dann müssen sich diese Unterschiede in einem Rahmen halten, der als fair empfunden werden kann. Unser derzeitiges Verständnis von der Wohlstandsverteilung im Kapitalismus trägt dem nicht hinreichend Rechnung. Etwas mehr Gemeinwohlorientierung stünde uns gut zu Gesicht.

Wer einen Kapitalismus mit mehr Gemeinwohlorientierung will, wird dies nicht mit technischen Mitteln allein erreichen. Gebote und Verbote, steuerliche Anreize oder Mehrbelastungen wirken nur, wenn sie Teil einer größeren Erzählung sind und im Rahmen dieser als natürliche und systemadäquate Konsequenz verstanden werden können. Andernfalls werden sie als Einladung zum Missbrauch und zur Umgehung verstanden. Was wir dringend brauchen, ist ein neues Kapitalismusverständnis, eine neue Erzählung. In dieser ist der Kapitalismus das beste Wirtschaftssystem, um sowohl das Glück des Tüchtigen als auch den Wohlstand aller zu befördern. Armut und übermäßiger Reichtum sind diesem System gleichermaßen fremd. Ganz so, wie es die großen Philosophen schon seit Jahrtausenden fordern. Wäre das nicht ein Wert, an dessen Verwirklichung zu arbeiten sich lohnen würde?

 

Unsere Eliten müssen Vorbild sein

Dass wir derzeit viel über unsere Werte sprechen, macht Hoffnung. Mehr aber auch nicht. Es gehört zum Wesen von Krisen – egal, ob individuell oder überindividuell –, bestehende Glaubenssätze in Frage zu stellen, in ihnen womöglich sogar die Ursache für die Krise selbst zu sehen und Besserung zu geloben. Ebenso menschlich ist es aber auch, all das schnell wieder zu vergessen und weiterzumachen wie bisher, wenn die Krise vorüber ist. Das darf uns diesmal nicht passieren. Denn wenn die Corona-Krise vorüber ist, ist die Krise der Menschheit noch lange nicht vorbei. Die Klimakrise und all die anderen von Menschen gemachten Krisen, die ich in meinem ersten Beitrag erwähnt habe, bleiben unverändert aktuell und bedrohlich. Um sie zu bewältigen, müssen wir unsere Werte und die ihnen zugrunde liegende Vorstellung vom bestmöglichen Leben weiterentwickeln.

Wir müssen weiterdiskutieren, in gegenseitiger Achtung um die bestmögliche Lösung ringen und Ergebnisse produzieren. Wir müssen schneller werden und das Vereinbarte entschlossen in die Tat umsetzen. Denn unsere Uhr tickt. Unseren Eliten, das heißt all denjenigen, die, auf welchem Gebiet auch immer, in Führung und Verantwortung stehen, gleichgültig ob groß oder klein, ob bezahlt oder unbezahlt, kommt dabei eine große Verantwortung zu. Sie müssen vorangehen und den Weg weisen. Unsere Eliten müssen Vorbild sein.

 

[1] Die wichtigsten Gründe hierfür habe ich in meinem Beitrag „Zeit für Veränderung“ angesprochen.