Vom Governance Kodex zur Familienverfassung
In diesem Beitrag für das Handbuch „Governance im Familienunternehmen“ haben Prof. Dr. Peter May und Dr. Karin Ebel zusammengefasst, wie Inhaberfamilien anhand des Governance Kodex für Familienunternehmen die eigene Familienverfassung erarbeiten können.
I. Warum Familienunternehmen eine gute Governance brauchen
Erfolg ist das Ergebnis guter Arbeit und niemand wird bestreiten wollen, dass es wichtiger ist, Ideen umzusetzen als nur Ideen zu haben. Aber die Arbeit wird umso besser sein können, je mehr sie eingebettet ist in einen gemeinsamen Auftrag (Mission und/oder Vision), in klare Ziele und kulturprägende Werte sowie in eine Strategie, die einen überzeugenden Weg weist, wie all das erreicht werden kann. Operatives Management ist im Idealfall immer auch Umsetzung einer übergeordneten Strategie, die dem operativen Tun Richtung gibt und eine Konzentration der Kräfte erlaubt.
Gleiches gilt für die Organisation des Unternehmens. Erst wenn die vorhandenen Mittel – Menschen, Maschinen, Finanzmittel etc. – so organisiert und zusammengefügt werden, dass sie auf die Strategie abgestimmt sind, können sie der Zielerreichung bestmöglich dienen. An dieser Stelle kommt die Forderung nach guter Governance ins Spiel. Eine Organisation braucht Strukturen und Regeln, die das Zusammenleben der Menschen auf die Strategie ausrichten und unnötige Reibungsverluste vermeiden helfen. Eine gute Governance schafft solche Strukturen und Regeln und ist damit ein wichtiger Baustein für den Erfolg eines Unternehmens.
Das gilt auch für Familienunternehmen. Auch sie brauchen eine gute Governance, um langfristig Erfolg haben zu können. Dabei können sie sich nur begrenzt an den Governance-Empfehlungen für große Publikumsgesellschaften orientieren. Denn Familienunternehmen unterscheiden sich signifikant vom Fokuspunkt der betriebswirtschaftlichen Forschung. Sie wenden sich nicht an einen breiten, ständig wechselnden Investorenkreis mit tendenziell begrenztem zeitlichen Anlagehorizont. Sie werden auch nicht von ihren Managern, sondern von ihren Inhabern dominiert. Und dieser Inhaber ist kein Investor, sondern eine Familie – noch dazu mit einem generationsübergreifenden Unternehmerverständnis. Was das bedeutet, weiß jeder, der mit Familienunternehmen zu tun hat. Ganz eigenständige Vorzüge kommen hier ebenso zum Tragen wie typusspezifische Herausforderungen. Wir haben dazu schon oft und viel geschrieben.
Familienunternehmen sind anders und brauchen demzufolge auch eine andere Governance. Eine Governance, die ihre Stärken stärkt und ihre Schwächen schwächt. Die dazu beiträgt, die potenziellen Vorzüge dominanter familiärer Inhaberschaft und eines auf Langfristigkeit ausgelegten unternehmerischen Ansatzes in echte Wettbewerbsvorteile zu verwandeln. Und zugleich Vorsorge trifft, dass den systemtypischen Herausforderungen – Machtmissbrauch, Familienstreit und nachlassender Unternehmergeist – wirksam begegnet werden kann.
II. Der Governance Kodex für Familienunternehmen
1. Zielsetzung
Der Governance Kodex für Familienunternehmen hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Inhabern von Familienunternehmen einen verlässlichen Rahmen für die Beurteilung und Optimierung ihrer Governance-Strukturen an die Hand zu geben. Der Kodex ist eine gemeinsame Initiative der INTES Akademie für Familienunternehmen, des Family Business Network Deutschland (FBN) und des Verbandes DIE FAMILIENUNTERNEHMER und wurde von Prof. Dr. Peter May begründet. Er wurde 2004 als weltweit erste Initiative dieser Art geschaffen und regelmäßig, zuletzt 2015, aktualisiert. [Anmerkung: Seit der Veröffentlichung dieses Beitrags ist eine zusätzliche Überarbeitung des Kodex erfolgt, die 2021 veröffentlicht wurde.] Seine Inhalte wurden von einer Kommission unter Mitwirkung namhafter Familienunternehmer, Wissenschaftler und Berater erarbeitet.
Der Kodex enthält Leitlinien für die verantwortungsvolle Führung von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien und beschäftigt sich in insgesamt acht Hauptkapiteln mit den Themen
1. Selbstverständnis der Inhaber
2. Ausgestaltung der Inhaberrechte und -pflichten
3. Aufsichtsgremium
4. Unternehmensführung
5. Ergebnisermittlung und -verwendung
6. Übertragbarkeit der Inhaberschaft, Ausscheiden aus dem Inhaberkreis
7. Family Governance
8. Erstellung und Gültigkeit eines eigenen Governance Kodex
Dabei verzichtet der Kodex weitgehend darauf, präzise Vorgaben für die inhaltliche Ausgestaltung der Governance zu machen. Dies wäre mit Blick auf die Verschiedenheit und Vielgestaltigkeit der Familienunternehmen gar nicht möglich. Anders als Publikumsgesellschaften (für die der Deutsche Corporate Governance Kodex weitaus konkretere Handlungsvorgaben macht) bilden Familienunternehmen keine homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich nicht nur in Alter, Größe und der Art des unternehmerischen Investments, sondern vor allem auch in der Struktur ihrer Inhaberschaft, der Art der familiären Einflussnahme auf das Unternehmen sowie der Ausgestaltung ihrer Führungs- und Kontrollstrukturen zum Teil erheblich von einander.
In einem Akt kluger Selbstbegrenzung beschränkt sich der Governance Kodex für Familienunternehmen deshalb darauf, diejenigen Fragen zu stellen, die es den einzelnen Familien ermöglichen, in einer Art Selbsttest die Qualität ihrer Governance zu überprüfen und Ansätze für deren Weiterentwicklung zu erarbeiten. Oder, wie es in der Präambel zum Kodex ausdrücklich heißt: „Ziel des Governance Kodex für Familienunternehmen ist es, den Inhaberfamilien dabei zu helfen, die relevanten Fragen zu stellen und individuelle, auf die jeweilige Situation von Unternehmen und Familie zugeschnittene Antworten zu finden.“
2. Kernforderungen
Versucht man, aus der Fülle der Einzelhinweise die wichtigsten Aussagen herauszufiltern, ergeben sich insgesamt zwölf Kernforderungen:
- Die Inhaber haben klar geregelt, wer zum Inhaberkreis und wer zur erweiterten Inhaberfamilie gehört und welche Rechte und Pflichten mit diesen Rollen verbunden sind.
- Sie haben Werte und Ziele für das Unternehmen, die Unternehmerfamilie und die familiäre Inhaberschaft festgelegt und zu einem schlüssigen Leitbild verbunden.
- Sie haben Aussagen zum Erhalt des Unternehmens als Familienunternehmen und zur Art der Einflussnahme der Familie auf ihr Unternehmen getroffen.
- Die Mitwirkung der Familienmitglieder im Familienunternehmen ist klar geregelt und entspricht den Grundsätzen von „Fair Process“ und „Professional Ownership“.
- Die Unternehmensführung ist nach professionellen Maßstäben besetzt und den Zielen und Werten der Inhaberfamilie verpflichtet.
- Rechte, Aufgaben und Zusammensetzung eines etwaigen Beratungs- und/oder Kontrollorgans (Beirat, Aufsichtsrat, Verwaltungsrat etc.) sind geregelt und an der individuellen Aufgabenstellung ausgerichtet.
- Es gibt eine langfristig orientierte Nachfolgeplanung und einen Notfallplan – für Eigentum und Führung.
- Bei der Verwendung des erwirtschafteten Ergebnisses (Thesaurierung versus Dividende) sind Unternehmens- und Inhaberinteressen fair ausbalanciert.
- Die Familie verfügt über eine professionelle „Family Governance“. Insbesondere die Vorbereitung der nächsten Generation auf ihre künftigen Rollen sowie die Einbindung der Partner sind geregelt.
– Die Familie hat ihren individuellen Familien-Kodex gemeinsam erarbeitet
– idealerweise in einem moderierten Prozess. - Die Inhalte des Familien-Kodexes sind bzw. werden vollständig umgesetzt.
- Der Familien-Kodex wird in (un-)regelmäßigen Abständen überprüft und – falls erforderlich – an veränderte Verhältnisse angepasst.
III. Von den Fragen zu den Antworten: Vom Governance Kodex zum Familien-Kodex
Konkrete Festlegungen kann und will der Governance Kodex für Familienunternehmen nicht treffen. Er hat keinen Inhalt, der – schlicht abgeschrieben – ein Governance-Regelwerk für die Familie darstellen könnte. Seine Fragen bedürfen der individuellen Beantwortung durch die einzelne Unternehmerfamilie. Erst das, was sie als Antworten auf die Fragen des Kodex formuliert, ist „ihre“ Governance.
Und die sollte unbedingt auf die individuelle Situation des Familienunternehmens und der Inhaberfamilie zugeschnitten sein. Governance von der Stange macht im Familienunternehmen keinen Sinn. „One size fits all“ funktioniert hier nicht. Dafür sind die Ausgangssituationen zu unterschiedlich. Was für einen Alleininhaber richtig sein mag, passt für einen Gesellschafterkreis mit mehreren hundert Mitgliedern noch lange nicht. Ein inhabergeführtes Familienunternehmen braucht andere Regeln als eines, an dessen Spitze ein nicht aus der Familie stammender Unternehmensführer steht. Und in einem Unternehmen, das sich auf ein Kerngeschäft fokussiert, stellen sich andere Fragen als in einer breit diversifizierten Unternehmensgruppe oder in einem Family Investment Office. Gute Governance im Familienunternehmen ist stets individuell. Sie ist immer Maßanfertigung und auch für die heißt es zunächst einmal: Maß nehmen – je genauer, desto besser.
1. Analyse der Ausgangssituation mit dem 3-Dimensionen-Modell
Hilfestellung dabei bietet das 3-Dimensionen-Modell. Dieses einfach zu handhabende Analyseinstrument geht von der Erkenntnis aus, dass Familienunternehmen im Laufe ihres Lebenszyklus verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen und unterschiedliche Erscheinungsformen aufweisen können. Und dass mit jeder dieser Erscheinungsformen unterschiedliche Herausforderungen und Fragestellungen verbunden sind. Das gilt vor allem für die drei zentralen Dimensionen Inhaberschaft, Führung und Kontrolle sowie Art des unternehmerischen Investments. Die Kenntnis, auf welcher Entwicklungsstufe sich das Familienunternehmen innerhalb dieser drei Dimensionen jeweils befindet, ermöglicht es, die zentralen Herausforderungen für das jeweilige Familienunternehmen zu bestimmen und festzulegen, wo bei den Bemühungen um eine gute Governance Schwerpunkte gebildet werden müssen.
a) Inhaber-Struktur
Die dominante Inhaberposition der Familie kann typischerweise entweder von einem Alleininhaber, einer Geschwistergemeinschaft, einer Vettern- und Cousinenkonstellation oder von einer Familiendynastie mit einer Vielzahl nur noch entfernt miteinander verwandter Familienmitglieder gehalten werden. Mit dem Wechsel der Erscheinungsform geht auch ein Wechsel der zentralen Herausforderungen einher. Während es beim Alleininhaber darum geht, Vorkehrungen gegen die Einsamkeit des Alleinentscheiders und gegen seinen ungeplanten vorzeitigen Ausfall zu treffen, muss in der Geschwister-Gesellschaft vor allem der richtige Umgang mit der systemimmanenten Geschwisterrivalität gelernt werden. Wächst die Geschwistergesellschaft zur Vetternkonstellation, treten zunehmend neue Aspekte wie etwa schwindender Unternehmergeist, nachlassendes Commitment und geringeres Zusammengehörigkeitsgefühl in den Vordergrund. Außerdem muss der Umgang mit Unterschiedlichkeit (z.B. in Bezug auf Beteiligungshöhe, Mitwirkung und Erziehung) gelernt werden, wenn der Fortbestand der zunehmend inhomogener werdenden Gruppe gesichert werden soll. Ist die Zahl der Gesellschafter in einer Generation erst einmal so groß, dass die Unterschiede im Grunde keine Rolle mehr spielen (Familiendynastie), konzentrieren sich die Governance-Bemühungen auf drei zentrale Fragen: Wie sichern wir den Zusammenhalt in dem zunehmend loser werdenden Familienverbund? Wie erhalten wir die Zustimmung zu einem gemeinsamen Unternehmen, an dem der einzelne Gesellschafter nur noch marginal beteiligt ist? Und wie stellen wir sicher, dass nicht Vergütungs- und Ausschüttungsinteressen das unternehmerische Tun bestimmen, sondern ein weiterhin lebendiger Unternehmergeist?
b) Führungs- und Kontrollstruktur
Für den Inhaber, der sein Unternehmen selbst führt, kommen zu den Risiken der Alleininhaberschaft noch die Risiken der Letztverantwortung im Management. Wenn alles vom Mann oder der Frau an der Spitze abhängt, wird es doppelt wichtig, für eine beratende Begleitung und eine professionelle Nachfolge zu sorgen, insbesondere auch im Fall eines unvorhergesehenen vorzeitigen Ausfalls. Im familiengeführten Familienunternehmen, in dem es neben im Management aktiven auch nicht im Unternehmen tätige Gesellschafter gibt, liegen die Dinge gänzlich anders. Hier geht es vor allem darum, einen fairen und professionellen Auswahlprozess beim Zugang zu den Führungspositionen sowie bei der Leistungsbeurteilung und Vergütung zu gewährleisten und einen fairen Interessenausgleich zwischen aktiven und nicht aktiven Gesellschaftern, insbesondere in der Dividendenfrage, herzustellen. Sieht die Familie ihre zentrale Position nicht mehr im Management, sondern in einem Aufsichtsrat, Beirat oder einem anderen Kontrollgremium und lässt ihr Unternehmen von familienfremden Personen7 führen, verlieren diese konfliktträchtigen Konstellationen schlagartig an Bedeutung. Stattdessen wird jetzt der professionelle Umgang mit dem Prinzipal-Agenten-Konflikt zum erfolgskritischen Thema: Wie finden und binden wir die richtigen Manager? Wie steuern und kontrollieren wir sie? Und wie stellen wir die notwendige Interessenidentität zwischen Führung und Inhaberschaft sicher? Eine völlig andersartige Ausgangssituation und völlig andere Fragestellungen. Das gilt auch für die vierte und letzte Erscheinungsform der Governance-Struktur: das fremdgesteuerte Familienunternehmen. Ist die Familie weder in der Führung noch im Kontrollgremium dominant vertreten, darf es nicht mehr nur um die Findung und Bindung geeigneter Personen von außen gehen, sondern auch darum, ob ein dominantes unternehmerisches Engagement bei solcher Abhängigkeit von familienfremden „Agenten“ noch zu rechtfertigen ist. Der traurige Fall der Marlene Schickedanz sollte uns zumindest nachdenklich machen.
c) Art des unternehmerischen Investments
Unterschiedliche Governance-Fragen verbinden sich auch mit den verschiedenen Arten des unternehmerischen Investments der Inhaberfamilie. Während in jungen Familienunternehmen Fragen der Überlebenssicherung dominieren, treten im reifen fokussierten Unternehmen zunehmend Aspekte des richtigen Umgangs mit dem unternehmerischen Risiko in den Vordergrund. Ist es auf Dauer richtig, „alle Eier in einem Korb“ zu haben? Und wie könnte eine angemessene Risikodiversifikation für die Gesellschafter aussehen – vor allem eine solche, die den Erfolg des Unternehmens nicht gefährdet? Diese Fragen stellen sich im breit aufgestellten diversifizierten Familienunternehmen nicht mehr. Hier ist die Risikodiversifikation zum Programm geworden. Dafür gibt es nun neue und andere Herausforderungen: Reichen die finanziellen Mittel der Familie, um auf mehreren Märkten eine erfolgreiche Rolle spielen zu können? Können wir mehr als nur ein Geschäft? Verfügen wir über ein professionelles Portfoliomanagement, um die notwendigen Entscheidungen über Investition und Desinvestition sachlich fundiert treffen zu können?
Die Frage nach der notwendigen Kompetenz stellt sich schließlich auch, wenngleich anders, in den an Bedeutung zunehmenden Family Investment Offices. Viele Unternehmerfamilien bleiben auch nach dem Verkauf ihres ursprünglichen Familienunternehmens zusammen und bewirtschaften ihr neu erworbenes Finanzvermögen gemeinsam, aber nur wenige sind ausreichend gut darauf vorbereitet.
Unternehmerfamilien, die wissen, welchen Typus sie innerhalb der drei Dimensionen verkörpern, tun sich leicht damit, die spezifischen Herausforderungen zu lokalisieren, auf die sie bei der Ausgestaltung der Governance ihr Hauptaugenmerk richten müssen. Das hilft vor allem auch im Nachfolgeprozess. Mithilfe des 3-Dimensionen-Modells lässt sich simulieren, wie sich das Familienunternehmen als Folge bestimmter Nachfolgeentscheidungen verändert. Welche neuen Fragen auf- tauchen. Und wie man ihnen vorbeugend begegnen kann.
2. Entscheidungen treffen mithilfe des Inhaber-Strategie-Prozesses
Ausgehend von einer treffsicheren Analyse der Gestaltungsschwerpunkte kann sodann mit der Entwicklung der familienindividuellen Governance begonnen werden. Eine Anleitung dazu bietet der Inhaber-Strategie-Prozess.
a) „Der Prozess ist mindestens so bedeutsam wie das Ergebnis.“
Gute Governance entwickelt die Familie in einem gemeinsamen Prozess. Dies fordert der Governance Kodex für Familienunternehmen jetzt erstmalig ausdrücklich. Dieses Grundverständnis ist noch relativ neu. Bis vor kurzem dominierte die Ansicht, dass Governance-Regeln im Familienunternehmen vom Patriarchen und seinen Beratern vorgegeben werden. Im bürgerlich-patriarchalischen Zeitalter gab es keinen Governance Kodex für Familienunternehmen und erst recht keine Familien-Kodices. Was zwingend geregelt werden musste, stand im Gesellschaftsvertrag, der Rest unterlag als meist ungeschriebenes Gesetz patriarchalischer Rechtsetzungs- und Rechtsprechungswillkür. Das hat sich grundlegend geändert. Das bürgerlich-patriarchalische Zeitalter ist untergegangen und mit ihm die patriarchalische Autorität. Tradition und Autorität haben ihre Bindekraft verloren. Wer heute Kontinuität im familiären Unternehmertum herstellen will, muss Begeisterung für das gemeinsame Projekt erzeugen. Er muss mit den anderen auf Augenhöhe verkehren, den Sinn der gemeinschaftlichen Unternehmung vermitteln, alle einbeziehen und so Selbst-Verpflichtung und Zusammenhalt erzeugen. Dem dient der gemeinschaftliche Prozess. Er erzeugt das notwendige Commitment und ist daher, so formuliert es der Kodex zutreffend, „mindestens so bedeutsam wie das Ergebnis“.
b) Hinweise für die Prozessgestaltung
1. Wer an dem Prozess teilnimmt, muss vor Beginn gemeinschaftlich festgelegt werden. Der richtige Teilnehmerkreis hängt von der Größe der Familie, von Alter und Erkenntnisfähigkeit der Familienmitglieder sowie von der individuellen Familienkultur ab. Jede Familie hat ihre eigene Kultur und ihre eigene Geschwindigkeit. Aber es sollte allen klar sein, dass die Kraft der Selbst-Verpflichtung umso größer ist, je mehr Familienmitglieder eingebunden werden und je weiter die Teilhabe am Prozess reicht.
2. Unabhängig davon, wie viele Familienmitglieder teilnehmen, sollte der Prozess extern begleitet werden – und zwar von mindestens zwei Prozessbegleitern. Extern deshalb, weil Familienmitglieder, selbst wenn sie über die zur Leitung solch sensibler Prozesse notwendige Kompetenz verfügen, in eigener Sache befangen sind oder zumindest als befangen angesehen werden. Wer selbst Partei ist, hat natürliche Eigeninteressen, die eine für den Prozesserfolg unerlässliche Überparteilichkeit und Äquidistanz unmöglich machen und damit den Erfolg des Prozesses insgesamt gefährden.
Der Einsatz von mindestens zwei Prozessbegleitern hat zudem den unschätzbaren Vorteil, dass sie als Team einander beobachten, ergänzen und unterstützen können und trennscharf – ggf. auch im Wechsel – die beiden Rollen ausfüllen können, derer es für einen optimalen Prozessablauf bedarf: Während der eine als Moderator die Prozessführung übernimmt, kann der andere die von der Gruppe gefundenen Resultate aus Sicht des Experten kommentieren und im Bedarfsfall eine Überprüfung anregen.
3. Ebenso muss darauf geachtet werden, dass der Prozess gut vorbereitet ist. Vorbereitende Interviews und Checklisten – wie der „offizielle“ Test zum Governance Kodex – sind wichtig und hilfreich. Unnötiger Zeitverlust und vor allem das unvorbereitete Hineinstolpern in kritische Themen sollen unbedingt vermieden werden. Denn der Prozess soll ja nicht bestehende Spaltungen vertiefen, sondern überwinden.
4. „Fische auf den Tisch“: Alles, was ungesagt bleibt, bleibt auch ungelöst. Und holt uns irgendwann später wieder ein. Bei der Erarbeitung gemeinsamer Ergebnisse darf es daher nur solche Tabuthemen geben, deren Offenlegung ein zu hohes Verletzungsrisiko mit sich bringen oder therapeutische Bearbeitung erforderlich machen würde. Familien-Kodices, die auf Tabus beruhen, haben keinen hohen Wert. Und eine kurze Lebensdauer.
5. Aufrichtiger Dialog: Um gemeinsam Lösungen entwickeln zu können, muss man miteinander reden, sprechen und zuhören. Je achtsamer und aufmerksamer, desto besser. Nicht in Positionen, sondern in Interessen denken. Also nicht: Was will ich, was will der andere? Sondern: Was ist mir wichtig und was ihm? Um dann gemeinsam nach einer Lösung zu suchen, die möglichst viele Interessen berücksichtigt. Auf diese Weise entstehen belastbare Vereinbarungen.
6. „Erledige das Schwierige, solange es noch einfach ist“: Gemeinsam erarbeitete Familien-Kodices sind ein wirksames Instrument der Konfliktprävention. Sie wollen und können dazu beitragen, Konflikte erst gar nicht entstehen zu lassen. Das wird umso leichter gelingen, je stärker das konfliktträchtige Thema noch abstrakt ist und nicht schon konkret auf dem Tisch liegt. Um es an zwei Beispielen deutlich zu machen: Über die Sinnhaftigkeit einer Altersgrenze für Geschäftsführer lässt sich leichter mit einem 50-jährigen als mit einem 70-jährigen Geschäftsführer diskutieren. Und die Frage, ob Mitarbeit im Unternehmen zulässig sein soll, bespricht sich leichter zu einem Zeitpunkt, in dem kein Mitglied in der Firma arbeitet. Vernunft bei Selbstbetroffenheit ist eine hohe Kunst. Das sollten wir uns zu Herzen nehmen. Und den Prozess zur Erarbeitung eines Familien-Kodexes zu einem Zeitpunkt beginnen, in dem (noch) möglichst wenig Selbstbetroffenheit vorliegt.
c) Die wichtigsten Inhalte
Im Prozess sollten dann gemeinsam – und möglichst in nachstehender Reihenfolge – die folgenden Inhalte bearbeitet und dokumentiert werden.
1. Mitgliedschaft: Am Anfang sollte die Frage der Zugehörigkeit geklärt werden. Jede Gemeinschaft tut gut daran, zunächst Regeln dafür aufzustellen, wer die volle
„Staatsbürgerschaft“ beanspruchen darf, wer eine „Green Card“, d.h. eine Zugehörigkeit mit minderen Rechten und Pflichten, erwerben kann und wer draußen vor der Tür bleiben muss. Das gilt auch für die Unternehmerfamilie. Auch sie muss klare Regeln dafür aufstellen, wer Gesellschafter sein und werden kann, wer sonst noch zur Unternehmerfamilie gehört, unter welchen Voraussetzungen man seinen jeweiligen Status verliert bzw. verlieren kann und welche Unterschiede insoweit zwischen der Gruppe der vollberechtigten Gesellschafter und der der minderberechtigten weiteren Mitglieder der Unternehmerfamilie bestehen.
Das ist heute längst nicht mehr so einfach wie früher. Komplexe Lebensverhältnisse haben das traditionelle bürgerliche Familienmodell mit seinem Vater-Mutter-Kind(er)-Ideal abgelöst. Patchworkfamilien mit Kindern aus mehreren Ehen, eigenen und denen des dazukommenden Partners, nichteheliche oder homosexuelle Lebensgemeinschaften, alleinerziehende Eltern mit nichtehelichen und/oder nichtleiblichen Kindern, künstliche Befruchtungen und Leihmutterschaften sind längst keine Seltenheit mehr. Die Familie unserer Tage ist bunt geworden. Und entzieht sich allgemeingültigen Definitionsversuchen. Was Familie ist, wer zur Familie gehört und wer Gesellschafter werden darf, kann und muss jede Familie heute selbst entscheiden. Eine quasiautomatische Begrenzung auf „eheliche leibliche Abkömmlinge“ – das war einmal.
Der Veränderung unterliegt auch das Verhältnis der aus den Gesellschaftern bestehenden Kernfamilie zu den hinzukommenden Partnern. Die exkludierende Gleichung „Inlaws = Outlaws“ gilt nicht mehr. Die neuen Verhältnisse sind komplexer. Zum einen werden Partner heutzutage nicht mehr nur als potenzielle Gefahrenquelle für den Familienfrieden, sondern auch als Unterstützung, Bereicherung und Miterzieher der nächsten Generation gesehen. Andererseits wird ihre Einbeziehung durch die zunehmende Instabilität der Partnerschaften erschwert – insbesondere dann, wenn es um Angelegenheiten mit Geheimhaltungsbedarf geht. Jede Familie muss hier ihren eigenen Weg zwischen Inklusion und Exklusion finden. Grund genug, im Familien-Kodex möglichst genau festzulegen, wer zur Unternehmerfamilie gehört und wer nicht, und „wie mit Familienmitgliedern umgegangen wird, die nicht Inhaber sind und doch Verantwortung für den Fortbestand von Familie und Unternehmen tragen“.
Sinnvoll ist auch, den Gesellschaftern und sonstigen Mitgliedern der Unternehmerfamilie bereits hier einen Überblick über die wichtigsten Rechte, Pflichten und Erwartungen zu geben, die mit ihrer Rolle verbunden sind. Zu einer Unternehmerfamilie zu gehören oder gar Gesellschafter eines Familienunternehmens zu sein, ist ein großes Privileg, aber es beinhaltet auch eine große Verantwortung und wichtige Verpflichtungen und Einschränkungen. Sie zu kennen und anzuerkennen, ist ein wichtiger Akt familiärer „Staatsbürgerkunde“.
Zu guter Letzt sollte die Familie noch eine Aussage darüber treffen, ob sich die Mitgliedschaft nur auf die Gesamtfamilie bezieht, oder ob die Familie sich zusätzlich in Einzelgruppen oder „Stämmen“ organisiert. Diese Frage ist für die Kultur des familiären Zusammenhaltes und das Verhältnis der Einzelmitglieder zum Familienunternehmen von großer Bedeutung und bedarf deshalb sorgfältiger Abwägung und einer genauen Beurteilung der jeweiligen Konsequenzen.
2. Identität: Regeln alleine können eine Gemeinschaft auf Dauer nicht zusammenhalten. Die mit der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verbundenen Einschränkungen werden langfristig nur akzeptiert, wenn die Vorteile als überwiegend anerkannt, die Spielregeln als vereinbart und veränderbar und von einem übergeordneten, Identität und Sinn stiftenden Spielverständnis getragen wahrgenommen werden. Deshalb ist es so wichtig, dass die Unternehmerfamilie früh eine gemeinsame Identität und ein gemeinsames unternehmerisches Selbstverständnis entwickelt. Tradition und Autorität, der Kitt des bürgerlichen Zeitalters, genügen in postpatriarchalischen Zeiten nicht mehr. Zusammenhalt und Commitment, Verpflichtung und Selbst-Verpflichtung lassen sich nicht mehr einfach verordnen. Sie müssen in einem offenen Prozess erarbeitet werden. Dabei können wir uns von folgenden Fragen leiten lassen: Was ist unser gemeinsamer Auftrag (unsere Mission und unsere Vision)? Welche Ziele wollen wir gemeinsam erreichen? Welche Werte sollen unsere Kultur prägen? In Bezug auf das Unternehmen und die Inhaberfamilie. Welche Erwartungen haben wir an das Unternehmen? Und welche Verpflichtungen sind wir bereit einzugehen?
3. Ein Rahmen für die unternehmerische Tätigkeit: Aus diesem abstrakten Leitmotiv können sodann in einem dritten Schritt strukturelle Vorgaben für die Unternehmensführung abgeleitet werden. Um nicht missverstanden zu werden: Strategieentwicklung und Umsetzung sind Sache des Managements und nicht Aufgabe der Inhaber. Aber es gehört zur normsetzenden Kompetenz der Inhaberrolle, den Rahmen festzulegen, innerhalb dessen das Management den vorgegebenen Auftrag erfüllen kann.
Wenn bei der Zielbestimmung der Erhalt der Unabhängigkeit des Familienunternehmens an oberster Stelle steht, dann gilt es jetzt festzulegen, was das, z.B. in Bezug auf finanzielle Stabilitätskennziffern, konkret bedeutet. Wenn wir uns ein erfolgreiches Familienunternehmen wünschen, sollten wir unsere Anforderungen an Rentabilität und Wachstum zumindest so weit konkretisieren, dass die Unternehmensführung weiß, was von ihr erwartet wird. Und wenn wir den Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellen wollen, dann sollten wir auch sagen, welche Dos und Don‘ts im unternehmerischen Tun damit verbunden sind. Die Schaffung eines plausiblen Handlungsrahmens zu Fragen der Strategie, Finanzierung und Kultur ist nicht nur das Recht, sondern im Rahmen guter Governance auch eine wichtige Pflicht der Inhaber eines Familienunternehmens.
Das gilt übrigens nicht nur mit Blick auf den ökonomischen, sondern auch auf den emotionalen Wert des Familienunternehmens. Der Wert eines Familienunternehmens geht für seine Inhaber über ökonomische Kenngrößen wie Unternehmenswert oder Dividende in der Regel weit hinaus. Daneben spielen Faktoren wie Stolz, Reputation, Zugehörigkeit, Mitwirkung oder gar Selbstverwirklichung eine Rolle. Für die Unternehmensführung ist dies oft schwer einzuschätzen und nicht selten geht es bei Konflikten zwischen Inhabern und Unternehmensführern genau um diesen, häufig nicht offengelegten Punkt. Es gehört deshalb zu guter Governance festzulegen, welche Faktoren den emotionalen Wert des Familienunternehmens bestimmen, wie bedeutsam diese sind und welche Konsequenzen sich daraus – insbesondere im Konfliktfall mit den ökonomischen Interessen – ergeben.
4. Strukturen und Regeln für das Unternehmen: Ist der strategische Handlungsrahmen bestimmt, können wir darangehen, Strukturen und Regeln für die Governance des Unternehmens zu entwickeln. Dabei geht es – neben Fragen der Unternehmensstruktur und Rechtsform – vor allem um die Frage einer geeigneten Führungs- und Kontrollstruktur und Regeln für deren optimale Ausfüllung.
Beginnen sollte die Familie mit der wichtigen Frage, welche Rolle sie selbst im Governance-Gefüge des Unternehmens spielen kann und will und welche Rollen sie Außenstehenden überlassen möchte. Kann und will sie das Unternehmen selbst verantwortlich führen? Oder will sie sich lieber auf die Steuerung aus einem Kontrollorgan (Beirat, Aufsichtsrat etc.) beschränken? Welche Organe soll es im Governance-Gefüge überhaupt geben? Welche Kompetenzen, Rechte und Pflichten sollen sie haben? Wie sollen sie zusammengesetzt sein? Welches Anforderungsprofil erwarten wir von den Organmitgliedern? Und wie wollen wir sie vergüten? Sollen diese Regeln für Familienmitglieder und Familienfremde unterschiedslos gelten oder etablieren wir für Familienmitglieder abweichende Anforderungen und/oder Vergütungen? Dies sind sensible Fragen, die eine sorgfältige Abwägung zwischen begrüßungswertem familiären Engagement und kluger Selbstbeschränkung verlangen – oft der schwierigste Teil in der gesamten Governance-Diskussion der Familie.
Das gilt insbesondere auch für die Frage nach der Mitarbeit von Familienmitgliedern im eigenen Unternehmen. Sollen Familienmitglieder auch unterhalb der obersten Governance-Gremien (Geschäftsführung/Vorstand, Beirat/Aufsichtsrat) aktiv im Unternehmen mitarbeiten dürfen? Und wenn ja: Unter welchen Voraussetzungen und Spielregeln? Ein erfahrungsgemäß besonders heißes Eisen.
Konfliktpotenzial bieten auch die finanziell relevanten Themen. Wie werden in Familienunternehmen arbeitende Familienmitglieder vergütet? Welche Dividende erhalten die Gesellschafter? Unter welchen Bedingungen ist es möglich, sich von seiner Beteiligung zu trennen und – ganz oder teilweise – aus dem Familienunternehmen auszuscheiden? Gemeinsam „richtige“ Antworten auf die Fragen der Corporate Governance zu finden, ist oft die Königsetappe auf dem Weg zu einer guten Governance.
5. Strukturen und Regeln für die Familie: Ist sie erfolgreich bewältigt, können wir uns der Governance der Familie zuwenden. Das „Management“ der Unternehmerfamilie ist längst keine zu vernachlässigende Randgröße mehr, die der Patriarch mit autoritärer Machtvollkommenheit ausgestattet quasi nebenher erledigt. Im postpatriarchalischen Zeitalter ist „Family Governance“ ein zentraler Baustein einer zukunftssichernden Governance im Familienunternehmen und ein Anliegen, um das sich die Inhaberfamilie „mit gleicher Sorgfalt kümmern (sollte) wie um die Führung des Familienunternehmens“. Ziel einer guten Family Governance ist es, „eine möglichst große Einigkeit innerhalb der Inhaberfamilie und deren Zustimmung zum Erhalt des Unternehmens als Familienunternehmen zu bewahren.“
Was dafür getan werden muss, ist familien-individuell und hängt von Faktoren wie Größe und Struktur des Gesellschafterkreises, Alter des Familienunternehmens und Kultur der Unternehmerfamilie ab. Die Fragestellungen jedoch, die behandelt werden sollten, sind im Wesentlichen für alle Unternehmerfamilien gleich: Was tun wir, um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Familienmitglieder zu stärken? Wie können wir die emotionale Bindung an das Unternehmen verstärken? Welche Maßnahmen zur Verbesserung der Gesellschafterqualifikation wollen wir anbieten? Wie führen wir die nachwachsende Generation planvoll an ihre unterschiedlichen Rollen im Governance-Gefüge des Unternehmens heran? Mit welchen Maßnahmen und in welchem Umfang wollen wir die Partner der Gesellschafter einbinden? Wie wollen wir miteinander umgehen? Welche Regeln gibt es im Umgang mit dem Unternehmen? Was tun wir, um Konflikte möglichst zu vermeiden? Und welche Regeln gelten im Konfliktfall? Wie wollen wir unsere Family Governance organisieren? Brauchen wir einen „Familienmanager“ oder vergleichbare Strukturen und wie vergüten wir das?
6. Rollen: Zu guter Letzt muss dann noch festgelegt werden, welche Rollen es im Familienunternehmen und in der Unternehmerfamilie tatsächlich gibt und welche davon der Familie offenstehen. Gibt es neben der Gesellschafterversammlung noch einen Sprecher der Gesellschafter, Stammessprecher oder Poolsprecher? Dürfen Gesellschafter und/oder Familienmitglieder im Kontrollorgan oder in der Geschäftsführung mitwirken? Wenn ja: Wie viele? Ist Mitarbeit im Unternehmen zulässig? Was heißt die Rolle als Mitglied der Unternehmerfamilie konkret? Wer gehört dazu? Gibt es einen oder mehrere Familienmanager? Vielleicht sogar einen Familienrat?
Die abstrakten Antworten auf diese Fragen finden sich bereits in den vorhergehenden fünf Prozessstufen. Sie müssen hier nur noch einmal zusammengetragen werden. Und die spannende Frage, wer die einzelnen Rollen ausfüllt, gehört schon nicht mehr in den Familien-Kodex, sondern zu dessen Umsetzung.
d) Hinweise für die inhaltliche Ausgestaltung
Bei der Erarbeitung der Inhalte im Familienkreis bleiben Interessenkonflikte nicht aus. Sie gehören zum menschlichen Dasein. Wir bekommen niemals alles. Und vor allem nicht sofort. Um dennoch zu guten Ergebnissen zu gelangen, können wir uns an zwei einfachen Prinzipien orientieren.
1. Professional Ownership: Sinnvolle Lösungen können nur erreicht werden, wenn die Beteiligten bereit sind, die eigenen Interessen nicht zum Maß aller Dinge zu machen und sich stattdessen an den Grundsätzen von Professional Ownership zu orientieren. Das Eigentum am Familienunternehmen berechtigt nicht nur, es verpflichtet auch. Es verpflichtet unter anderem dazu, beim Umgang mit der Unternehmensbeteiligung nicht nur und nicht zuvörderst auf die eigenen Vorstellungen zu schauen, sondern stets zu fragen: Wie würde sich ein objektiver Dritter, nicht geblendet durch persönliche Zielvorstellungen, in der gegebenen Situation verhalten, um den Erfolg des Unternehmens und seinen Fortbestand als Familienunternehmen zu gewährleisten? Dies – und nicht Selbstoptimierung – zur Handlungsmaxime zu machen, ist der legitime Kern des oft zitierten Grundsatzes „Firma geht vor“.
2. Fair Process: Was Professional Ownership mit Blick auf das Unternehmen bedeutet, bedeutet Fair Process mit Blick auf die Familie. Das Familienunternehmen kann nicht jedes Familienmitglied gleich glücklich machen. Der Zwang, um des Erfolges im Wettbewerb willen den familiären Gleichbehandlungsauftrag durch eine Differenzierung nach Leistung zu ersetzen, stellt das Individuum und den Familienverbund auf eine harte Probe. Gemachte Unterschiede werden umso leichter akzeptiert werden können, als die Beteiligten sicher sein dürfen, dass die getroffene Entscheidung nicht auf Willkür, sondern auf Fairness beruht. Und das bedeutet konkret, dass es klare Spielregeln gibt, diese gegenüber jedermann eingehalten werden, und völlige Transparenz über die Entscheidung und ihre Gründe besteht. Fair Process ist ein Schlüssel zu guter Governance und sollte bei der Erstellung eines individuellen Familien-Kodex ohne Ausnahme zur Anwendung kommen.
e) Vom Inhaber-Strategie-Prozess zum Familien-Kodex
Die wichtigsten Ergebnisse des Inhaber-Strategie-Prozesses werden am Ende in einem Familien-Kodex schriftlich festgehalten. Diese Dokumentation sollte die Familie nach Möglichkeit nicht von ihren Prozessbegleitern erstellen lassen, sondern selbst erarbeiten. Das dient nicht nur der finalen Aneignung, es hilft auch, etwa noch vorhandene Schwachstellen und Ungenauigkeiten aufzudecken. Jeder, der regelmäßig Texte verfasst, kennt das Gefühl, wenn beim Schreiben plötzlich klar wird, dass das Gedachte eben doch noch nicht ganz zu Ende gedacht ist. Insofern ist die Verfassung des abschließenden Dokuments der späteste Zeitpunkt zur Revision und Ergänzung der getroffenen Vereinbarungen und zur Aneignung ihrer Inhalte durch die Familie. Spätestens wenn sie es mit ihren eigenen Worten ausdrückt, macht sie den Kodex zu „ihrem“ Familien-Kodex.
Nicht alles, was im Inhaber-Strategie-Prozess erarbeitet wurde, gehört auch in den Familien-Kodex. Manches, wie die Anforderungsprofile für Gremienmitglieder oder Konzepte für die Family Education, gehört in den Bereich der Umsetzungsmaßnahmen und Ausführungsbestimmungen. Der Kodex ist gewissermaßen die Verfassung der Familie (weshalb er gerne auch als Familienverfassung bezeichnet wird). Wie jede Verfassung unterhält er nur höchstrangiges „Recht“, d.h. die Grundprinzipien, nach denen die Gemeinschaft funktionieren soll. Details werden in Ausführungsbestimmungen geregelt.
Ungeachtet seines „Verfassungsrangs“ sollte der Kodex jedoch kein Rechtsdokument sein. Rechtlich verbindliche Dokumente sollten von Juristen und in sauberer Rechtssprache abgefasst sein. Ihre Aufgabe ist es, eine juristisch saubere Entscheidungsgrundlage, insbesondere in Streitfällen, zu liefen. Deshalb ist ihre Sprache technisch, oft sperrig und wenig verbindend. Beim Kodex liegen die Dinge grundsätzlich anders. Er will verbinden und moralisch binden. Deshalb sollte er die rechtlich verbindliche Ausformulierung der juristisch relevanten Sachverhalte nicht selbst vornehmen, sondern an die erforderlichen Rechtsnormen (Gesellschaftsverträge, Geschäftsordnungen, Ehe- und Erbverträge etc.) delegieren. Um mögliche Zweifel zu beseitigen und Streit zu vermeiden, ist unbedingt anzuraten, die Frage der Rechtsqualität des Kodex und den Umsetzungsauftrag für die entsprechenden Rechtsnormen im Familien-Kodex ausdrücklich anzusprechen.
Zu guter Letzt sollte der Kodex auch eine Regelung zu seiner Anpassung enthalten. Nichts bleibt wie es ist – weder die Familie, noch das Unternehmen, noch ihr jeweiliges Umfeld. Wer sich nicht rechtzeitig anpasst, scheidet aus dem unternehmerischen Wettbewerb aus. Vieles, was in den Familien-Kodices von heute steht, wäre vor 50 Jahren noch undenkbar gewesen. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass vieles davon in 50 Jahren keinen Bestand mehr haben wird. Deshalb müssen wir unsere Governance immer wieder anpassen. Damit das nicht zu Streit führt, sollte die Familie im Familien-Kodex „regeln, welches Verfahren, welche Entscheidungszuständigkeiten und welche Mehrheiten für eine spätere Anpassung ihres Kodexes erforderlich sind.“
IV. „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“: Vom Familien-Kodex zur Umsetzung
Inhaber-Strategie-Prozess und Familien-Kodex sind wichtige Schritte auf dem Weg zu guter Governance im Familienunternehmen. Aber sie sind noch keine gute Governance. Sie sind bloß beschriebenes Papier, Absichtserklärungen, Handlungsaufträge, die durch Umsetzung zum Leben erweckt werden müssen. Erst wenn all das, was im Familien-Kodex und im Inhaber-Strategie-Prozess gefordert wird – die Anpassung der Gesellschaftsverträge und Geschäftsordnungen, die ehe- und erbrechtlichen Regelungen, die Anstellungsverträge und Vergütungsregelungen, die Einrichtung, Besetzung oder Optimierung von Kontrollgremien, die Anforderungsprofile für Gremienmitglieder, die Programme zur Qualifizierung von Familienmitgliedern und zur Einbindung der Partner und noch manch anderes mehr –, umgesetzt und gelebt wird, können wir wirklich von guter Governance sprechen. Das ist kein leichter, aber ein lohnender Weg.
Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in: Governance im Familienunternehmen. Das Handbuch für die erfolgreiche Führung von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien, herausgegeben von Prof. Dr. Peter May und Dr. Peter Bartels, Bundesanzeiger Verlag 2017