Liebe Freund:innen der Familienunternehmen!
Es war vielleicht die Sportnachricht der vergangenen Woche; fast allen führenden Tageszeitungen war der Rücktritt des Sportmanagers Max Eberl immerhin eine ganze Seite wert. Nun, Rücktritte von Sportmanagern sind in unserer Welt nichts Besonderes. Fast wöchentlich muss irgendwo einer gehen und wird ersetzt. Was den Fall Eberl besonders macht, sind seine Begleitumstände. Max Eberl war nicht erfolglos und er wurde auch nicht geschasst. Der 48-Jährige stand 23 Jahre in den Diensten von Borussia Mönchengladbach, davon 13 Jahre als Sportchef. In dieser Zeit führte er die Traditionsmarke zurück in die Spitzengruppe des deutschen Fußballs. Er war erfolgreich und er war umworben. Mehr als einmal wurde er mit Deutschlands Nr. 1, Bayern München, in Verbindung gebracht. Dass Eberl blieb, hatte eine Menge mit Liebe, Hingabe und Vertrauen zu tun – Liebe zum Verein, Hingabe an die Aufgabe und Vertrauen im Verhältnis zu den Chefs „seines“ Vereins. Bis zum Schluss hatten die Verantwortlichen versucht, Eberl umzustimmen – letztlich erfolglos. Auf der Pressekonferenz, in der Eberls Demission verkündet wurde, wirkte nicht nur Max Eberl sichtlich „angefasst“, Rolf Königs und Rainer Bonhof waren es ebenso.
„Ich beende etwas, was mein Leben war“, sagte Max Eberl am Ende der Pressekonferenz. Warum tut jemand so etwas? Und warum auf diese Weise? Eberls Demission war nicht einfach nur ein Rücktritt – sie war eine Flucht. Die Antwort, die der Sportmanager öffentlich selbst gab, sollte uns alle nachdenklich machen.
Max Eberl ist ausgebrannt. „Ich kann nicht mehr“, sagte er in schonungsloser Offenheit in der Pressekonferenz. „Ich bin erschöpft und müde. Ich will einfach raus.“ Allein dafür gebührt Eberl Respekt und Dank. Dass ein Erfolgsmensch seine Überforderung öffentlich eingesteht, ist immer noch die Ausnahme. Zu groß ist die Angst, als schwach und als Verlierer dazustehen. Dabei ist das, was wir als „Burnout“ bezeichnen, längst keine Ausnahme mehr, sondern ein Massenphänomen. Politiker kennen es, Ärzte und andere Menschen in Heilberufen, Unternehmer, Manager und Angestellte, sie alle und viele andere leiden unter Überforderung und Erschöpfung. Nehmen Auszeiten, Tabletten, nicht selten Drogen. Und machen weiter. Bis zum Zusammenbruch. Ein Outing können sie sich nicht leisten, sagen sie. Wer an Erschöpfung leidet, ist zu schwach, und wer zu schwach ist, wird ersetzt. So will es das System. Zur Entschuldigung sagt man, der Wettbewerb sei unbarmherzig, Rücksichtnahme auf Einzelschicksale könne man sich nicht leisten. The Show must go on! Selbst als der Fußballtorhüter Robert Enke, immerhin Nationalspieler, 2009 Selbstmord beging, dauerte das Innehalten nicht lange. Ein Kurswechsel? Fehlanzeige. Eine Stiftung, das war’s.
Warum ich dazu diesen KLARTEXT schreibe? Weil ich nicht anders kann. Weil ich Enkes Tod und Eberls Flucht als Weckrufe verstehe. Weil mit einem System, das immer mehr Menschen in unterschiedlichen Berufen und unterschiedlichen Positionen in die Überforderung treibt, etwas nicht stimmen kann. Und weil ich will, dass sich etwas ändert.
Mitunter wird mir entgegengehalten, ich solle mich nicht so anstellen. Das sei ganz einfach ein darwinistischer Ausleseprozess, Teil des „Survival of the fittest“. Ist es das wirklich? Ich finde das zynisch. Und menschenverachtend.
Die Systeme, die wir Menschen erschaffen und in denen wir leben, sollen den Menschen dienen, unserer Würde und unserem Wohlergehen. Je älter ich werde, je mehr ich sehe und verstehe, desto mehr beschleicht mich das Gefühl, dass es in der Realität, in der wir leben, umgekehrt sein könnte. Dass nicht das System uns, sondern wir dem System dienen. Kleine Rädchen im Getriebe, vermeintlich auf der Suche nach dem großen Glück, in Wahrheit aber nur auf dem Weg zur permanenten Selbstoptimierung, um den Interessen unseres Glaubenssystems noch besser dienen zu können. Als Belohnung gibt es – meist materielle – Incentives, keine Zufriedenheit, keine Ruhe, keine Balance und erst recht kein Glück.
Sie glauben, ich spinne? Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum wir zwar ständig Computer, Smartphones, Apps, Lieferdienste und andere großartige Dinge erfinden, die unser Leben leichter machen und uns freie Zeit schenken sollen, am Ende aber nur unser Arbeitstempo und unsere Produktivität erhöhen? Und haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass und in welchem Ausmaß unser wunderschöner Wohlstand auf Ausbeutung (von Mensch, Tier und Natur) beruht und seit Jahrhunderten beruht hat? Kolonialisierung, Sklaverei und Kinderarbeit, Schweinemast, Walfang und Artensterben, Amazonasrohdung, Ölförderung und CO²-Ausstoß – sie alle folgen der gleichen Logik.
Haben Sie sich schon einmal damit beschäftigt, wie ungleich der Wohlstand auf der Welt verteilt ist und warum das so ist? Oder warum wir immer mehr zu Ichlingen verkommen und, aufgepumpt mit individuellem Anspruchsdenken, zunehmend aggressiv die eigenen Vorteile verfolgen? Und dabei ganz vergessen, dass unser kleines hilfloses Ich nur in der Gemeinschaft und auf der Grundlage des durch sie gebotenen Schutzes überlebensfähig ist. Man muss schon in einer ziemlichen Blase leben, um all das nicht an sich heranzulassen. Max Eberl hat nicht die Krankheit diagnostiziert. Aber er hat mutig ein Symptom benannt, das auf die Krankheit verweist. Machen wir uns an die Arbeit!
Warum ich all dies in einem KLARTEXT für Familienunternehmer:innen schreibe? Ganz einfach: Weil ich überzeugt bin, dass wir Familienunternehmer:innen eine wichtige Rolle bei der notwendigen Transformation spielen können – und müssen. Nein Familienunternehmer:innen sind nicht heilig. Sie sind nicht einmal bessere Menschen. Neid, Eifersucht und Missgunst, der ewige Kleinkrieg um Geld, Macht und Liebe – das Familienunternehmen hat mehr als eine Schwachstelle. Aber sie denken, arbeiten und leben in einem System, das per definitionem durch (familiäre) Verbundenheit geprägt ist, Gemeinschaftsinteresse vor Individualinteresse und Enkelfähigkeit vor kurzfristige Erfolgsmaximierung stellt. Deshalb müssen wir vorangehen und für eine Welt kämpfen, in der „Burnout“ und andere Krankheitssymptome unserer Zivilisation der Vergangenheit angehören.
Mit dieser Anregung bin ich für heute mit den besten Grüßen
Ihr Peter May